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![]() Donald Duck / Uncle Scrooge
Viele Titel der Speedline Top100-Liste wurden kontrovers diskutiert, die Nummer Eins blieb jedoch immer unbestritten: Das Siegerpodest gebührt Carl Barks für seine Geschichten aus Entenhausen. Zwischen 1943 und 1967 schuf Barks in einem Gesamtwerk von 7.800 Seiten eine Vielzahl faszinierender, unterhaltsamer, abenteuerlicher und humorvoller Geschichten. Kristallisationspunkt des Barksschen Kosmos war Donald Duck, der erstmals 1934 in Walt Disneys Kurztrickfilm "The wise little Hen" aufgetreten war. Unter Barks Feder wuchs Donald aus der eindimensionalen Figur der Zeichentrickfilme und Zeitungsstrips zur realen Person heran: Ewig im Kampf mit einer widrigen Umwelt, den Tücken der Technik, der unerbittlichen Natur und den Launen seiner Mitmenschen. Donald ist kein Held, er ist einfach nur eine Ente wie Du und ich, er ist die Ente in uns allen. Ihm zur Seite stehen seine drei Neffen Tick, Trick und Track, die ihn mit ihrer Cleverness und ihrem Pfadfinderhandbuch aus (fast) jeder Bredouille hauen. Barks eigene Erfindung ist der Fantastilliardär Dagobert Duck, der sich vom habgierigen Geizhals zum unternehmungslustigen Abenterer mausert - und Jahre später George Lucas nach dessen eigenem Bekunden als Vorbild für Indiana Jones dienen sollte. Gustav Gans, Daisy Duck, Daniel Düsentrieb, die Panzerknacker... die Barksschen Geschöpfe sind weltweit bekannt. Barks Gesamtwerk besteht aus zwei Teilen: Die kurzen Zehnseiter, erschienen in "Walt Disney´s Comics & Stories", sind Gag-getrieben Geschichten, zu Beginn noch im Stil der Disney-Zeichenrickfilme, die zumeist Donalds Kampf als Erziehungsberechtigter gegen seine aufsässigen (und ihm zumeist überlegenen) Neffen Tick, Trick & Track thematisieren. Neuland betrat Barks mit den bis zu 30seitigen Abenteuergeschichten in "Donald Duck" und "Uncle Scrooge", in denen die Ducks Abenteuer auf der ganzen Welt erleben, häufig auf der Jagd nach mythischen Schätzen und alten Legenden. In diesen Geschichten entfaltet Barks sein ganzes Können als Autor: Er ist ein großer Geschichtenerzähler in alter Tradition. Barks Zeichnungen sind geprägt von seinem sicheren Gespür für den Erzählfluss, sie werden niemals dominierend, denn im Vordergrund stehen die Figuren, ihre Gedanken und Emotionen. Wie kein zweiter kann Barks seine Charaktere Gefühle mit einem einzigen Blick, einer Körperhaltung, einer Geste ausdrücken lassen. Darüber hinaus nutzt er gekonnt Silhouetten, witzige Hintergrund-Details, Slapstick-Elemente und halpseitige Splash-Panels. Barks Werk wird nach wie vor weltweit publiziert, ist aber in Europa erheblich populärer als im Ursprungsland Amerika. Der Erfolg in Deutschland, der u.a. zur wunderschönen Werkausgabe der "Barks Library" geführt hat, ist in nicht unerheblichen Maße auf die kongeniale Übersetzung von Erika Fuchs zurückzuführen. Zahlreiche ihrer Kreationen ("Dem Ingenieur ist nichts zu schwör") haben Eingang in unsere Alltagssprache gefunden. Die tiefe Menschlichkeit der Barksschen Kreationen, seine Liebe zum Fabulieren, seine handwerkliche Meisterschaft, der herzerwärmende Optimismus kombiniert mit einem nüchternen Zynismus: Barks Werk spricht jeden an. Wie wir alle hat auch Carl Barks weniger gute Tage gehabt, aber an seinen guten Tagen hat er Geschichten erzählt, deren Perfektion auch beim hundertsten Lesen atemberaubend ist. (Cord Wiljes) Lesetipps:
![]() From Hell
Ein Mörderteil: 500 Seiten starring Jack the Ripper, Queen Victoria, ein Bastard-Kind der Royal-Family, Huren, Polizisten, Kirchen, Obelisken und Freimaurer. Plus William Morris, William Blake, William Butler Yeats, John (Elefantenmensch) Merrick, dem ungeborenen Adolf Hitler. Und Handys. Der Mörder ist der Leibarzt der Königin, davon geht Moore aus. Ob Sir William Gull wirklich der Täter war, ist ihm egal, darum geht es nicht. Es geht um die Wirkung der Morde quer durch die englische Gesellschaft und die Folgen für die Zukunft, für die Gestalt des 20. Jahrhunderts an sich. Aber es ist keine trockene soziologisch/historische Abhandlung. From Hell ist eine Horror-Geschichte mit gigantischem, apokalyptischem Überbau, eine Horrorgeschichte, die es nicht bei einzelnen, blutigen Vorkommnissen belässt (und mit der Verbrennung des Bösen Erleichterung und Nachtschlaf verschafft), sondern nichts weniger will als die individuelle Weltsicht des Lesers zu erschüttern. Moores Methode ist dabei so einfach wie entwaffnend: Er präsentiert eine erschlagende Anzahl von Fakten und mischt magische/mystische/ mythische/esoterische (wie immer man gerne möchte) Details dazwischen, die Zusammenhänge herstellen, die man so vorher nicht gesehen hat. Denn wenn so viel wahr ist, warum dann nicht auch dies? Und das auch? So werden gehäufte Zufälle zu einem Plan und der Ziel des Plans kann nur grauenhaft sein. Es gibt mehrere Stellen in diesem Werk, an dem man sich wie der Kutscher am Ende des monumentalen 4. Kapitels übergeben möchte. Weil einen die Erkenntnis oder das Grauen überwältigt. (Kann man etwas großartigers über die Güte eines Buches sagen?) Nicht zuletzt die akribische Darstellung des letzten Mordes (Kapitel 10), bei dem einem wirklich der Boden unter den Füßen wegbricht. Und das hat nicht, nichts, nichts mit Splatter zu tun, da ist schon Eddie Campbells absolut zurückhaltender, aber sagenhaft präziser Stil davor. Was einen umwirft ist die Banalität, der schiere Irrwitz der Metzgerarbeit auf der einen Seite und die Wirkung dieses Irrsinns, die man bis in die Gegenwart spürt, auf der anderen. From Hell ist eine der wenigen, echten Großformen im Medium Comic. Kein Werk, das mehr oder weniger zufällig über die Jahre durch eine Verkettung von Episoden (sprich: Einzel-Alben) umfangreich und komplexer wurde oder einfach durch die erzählerische Form in die Breite geht (Stichwort: Manga), sondern das von Anfang an komplett und in aller Vielschichtigkeit geplant war. Ein Werk, das dem Umfang Rechnung trägt, weil weniger einfach nicht möglich war. Mr. Moore, Mr. Campbell – Hut ab!! (Bernd Kronsbein) Lesetipps:
![]() Tim und Struppi / Tintin
Haddock - so nennen wir einen reichen Kapitän a.D. im besten Mannesalter - Haddock hatte in Bienleins Rosengarten die schönste Stunde eines Mainachmittags zugebracht, um sich frisch erhaltenen Loch Lomond hinter die Binde zu kippen. Sein Geschäft war eben vollendet; er stellte das Glas an die Seite und betrachtete die leere Flasche mit Vergnügen, als Professor Bienlein hinzutrat und sich an dem teilnehmenden Fleiße des Kapitäns ergetzte. “Hast du die Castafiore nicht gesehen?” fragte Haddock, indem er sich weiterzurollen anschickte. “Wie? Du kannst die Anspielung nicht verstehen?” versetzte der Professor, “Seltsam, dabei ist es doch ganz offensichtlich...” Genau, denn meiner Meinung nach haben das Tim & Struppie-Album “Die Juwelen der Sängerin” (1963) und Goethes “Wahlverwandschaften” (1809), die ich gerade so free & easy miteinander vermixt habe, nicht nur Schauplatz (Landgut bzw. Schloß mit großem Garten bzw. Park) und Thema (Liebe, Spazierengehen & Metaebene) gemeinsam, sondern sind sich auch in dem Punkt einig, dass ein zentraler Aspekt von Kunst die Präsentation von Abgehangenheit zu sein hat. Abgehangenheit, die in Wahrheit jedoch megakompliziert ist und nur auf der Grundlage von langen theoretischen Forschungen und endlosen praktischen Versuchen in dieser obercoolen Jenseits-von-Gut-und-Böse-Form delivert werden kann. Das muss man sich mal klarmachen: Herge und Goethe - zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Werke längst nicht mehr im besten Mannesalter - vermitteln hier das Gefühl, dass Reden und Umhergehen die geilste Dinge auf der ganze Welt sind. Also wenn ich’s mir recht überlege, kann ich’s kaum noch erwarten endlich 60 zu werden. (Marc Sagemüller) Lesetipps:
![]() Asterix
Mit "Asterix" ist es das gleiche wie mit "Monty Phyton": Da stehen total viele Schwachmaten, die dann auch meist jeden Obelix-Flachwitz im Schlaf aufsagen können, drauf. Außerdem sind die 24 von Rene Goscinny getexteten Bände so mit das Bildungsbürgerlichste (Mentalitätswitze, historische Details, Anspielung und Lateiner-Sprüche bis der Arzt kommt und wieder geht), was es innerhalb dieses verfluchten Mediums zu bekommen gibt. Nicht umsonst wird immer dann heftig mit Asterix-Heften rumgewedelt, wenn es darum geht, die geforderten Beweise für den kulturellen Wert von Comics zu bringen. Und überhaupt, dieses ganze "die Kleinen erfreuen sich an den Keilereien und die Großen an dem hintersinnigen Wortwitz"-Gerede... schrecklich! Lese ich allerdings "Asterix als Legionär", "Asterix und der Avernerschild", "Tour de France", "Asterix und Kleopatra", "Asterix und der Kupferkessel", "Die golden Sichel", "Asterix auf Korsika" und "Asterix bei den Schweizern", ist mir das sowas von scheißegal, dass kann ich gar nicht in Worte fassen. Rene, du bist der Größte und uns allen eine Nasenlänge voraus! (Marc Sagemüller) Lesetipps:
Leseproben:
![]() Watchmen
Was hat dieser bärtige Brite nicht schon alles geschrieben: V for Vendetta, From Hell (jüngst abgeschlossen) und dazu noch Watchmen, die graphic novel (man glaubt fast, für Watchmen wurde diese Betitelung erfunden), ohne die wir vielleicht gar nicht mehr hier wären; allesamt Medium-Refresher ohnegleichen. Alan Moore ist fraglos der mit Abstand wichtigste unter den lebenden anglo-amerikanischen Comicautoren, und nicht wenige Comicrezipienten hörten oder äußersten schon mal das sinngemäße Statement: „Mit Comiclesen hab´ ich ja wieder ernsthaft angefangen, als Frank Miller mit The Dark Knight Returns und Alan Moore und Dave Gibbons mit Watchmen Mitte der Achtziger gezeigt haben, wie gut, erwachsen, anspruchsvoll und...“. Tatsächlich ähnelt die Watchmen-Lektüre einer großen Initiation, einer Eiswasserdusche sowohl auf Seiten der Leseerfahrung als auch der Comicschaffenden. Stärker als das Telefonbuch einer größeren Kleinstadt ist diese elegische Superhelden-Symphonie unerreichter Zenit innerhalb des „Was wäre, wenn es Superhelden wirklich gäbe“- Diskurses und markiert die Grenzen dessen, was im Mainstream-Comic möglich scheint. Es ist unmöglich, nach einmaliger Lektüre die ganze Fülle dieses Großwerks auszukosten; zu genau ist alles durchkomponiert, zu überreichlich die (graphischen) Details. Verschiedene Variationen heldischer Moral bzw. Motivation werden an verschiedenen Maskierten durchprobiert, bis als letzte Konsequenz nur der Ausweg in ethisch nicht mehr einholbares, über-menschliches Nichts bleibt. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
![]() Nestor Burma
Frage: Der größte noch tätige Comickünstler ist? Antwort: Jacques Tardi, wer sonst? Kaum ein anderer Zeichner ist so unverkennbar und originär; kaum ein anderer so stilistisch ausgereift, sicher und makellos; kaum einer so vorzeigbar selbst Comic-Gegnern; fast niemand so durchdacht und künstlerisch, ohne sichtbar angestrengt konzeptuell-formalen Auflagen zu folgen. Schlägt man einen Tardi-Comic auf, ist das wie ein rundum perfekt ausgepolstertes ästhetisches Nest, in das man bedenkenlos fallen kann, ohne auch nur mit den kleinsten Unbequemlichkeiten rechnen zu müssen. Von seinen frühesten Arbeiten an (seit Anfang der Siebziger), seit spätestens Der Dämon im Eis (Dargaud 1974; dt.: Ed. Moderne 1991) bis zum frischesten Werk Adeles ungewöhnliche Abenteuer Bd.9: Das Geheimnis der Tiefe (Casterman 1998; dt.: Ed. Moderne 1999) ist nahezu jedes Album ohne Abstriche gigantisch, und wenn für diese Hunderterliste Tardis Adaptionen der Kriminal- und Parisromane um den Privatdetektiv Nestor Burma von Léo Malet gewählt wurden, hat das etwas Willkürliches - einen Platz in diesen Charts hätte z.B. auch seine Adele-Serie locker verdient. Andererseits zeigen die bislang drei Nestor-Burma-Folgen Die Brücke im Nebel, Kein Ticket für den Tod und das fast 200seitige Doppelalbum 120, Rue de la gare zum einen, dass das Adaptieren fremder literarischer Vorlagen für Tardi keinen Akt der Einschränkung oder Unterwerfung darstellt, sondern vielmehr die volle Entfaltung seiner Kunst zeitigt - in diesem Punkt ist die Beziehung zwischen Romanvorlage und Comicversion (bei allem Respekt, Monsieur Malet) dem Verhältnis von Robert Blochs Psycho und Hitchcocks Verfilmung vergleichbar. Zum anderen bieten Malets Texte den Stoff, auf dem Tardis genuiner Ansatz perfekt fusst: Krieg, Krimi und vor allem Paris sind die eigentlichen Hauptdarsteller, die Tardi in üppigen Schwarz/Weiss- und Graukompositionen über ihren Status als Handlungselement oder Dekor hinaus auf eine Höhe treibt, in der andere Comicschaffende nur selten überhaupt atmen können. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
![]() Corto Maltese
Wir begegnen Corto Maltese zunächst im Jahre 1913 im Südwest-Pazifik, reisen dann mit ihm nach Südamerika, gelangen schliesslich 1917 mit ihm nach Europa, ein Jahr später nach Afrika, und verfolgen um 1920 seine Spur über China bis nach Sibirien. Nach Venedig, der Schweiz und dem Reich Mu plante Hugo Pratt Cortos Tod im spanischen Bürgerkrieg als Abschluss dieser Abenteurerbiographie, starb allerdings vor Realisierung dieser finalen Episode. Mit Corto Maltese hat Pratt einen der im altmodischen Sinn faszinierendsten Charaktere der Comicgeschichte geschaffen, von ähnlichem Facettenreichtum und „Echtheit“ wie etwa Orson Welles´ Charles Foster Kane. Bei aller abgefeimt und ironisch eingearbeiteten Selbstreflexion hinsichtlich des Erzählstatus seiner Geschichten lassen einen Corto Maltese - Alben wie die Südseeballade oder Die Kelten zuallererst die Erfahrung idealsten Lesens zuteil werden: man vergisst, dass man liest; man vergisst, zwischen der Magie der dickgetuschten Zeichnungen, der stimmungsvollen Langsamkeit, in der sie erzählen, und den Wundern, Abenteuern und Geheimnissen, die erzählt werden, zu trennen. Hierzu Pratt: „Ich verstehe unter „Erzählen können“, auf eine ganz bestimmte Weise erzählen zu können: Neugierde zu wecken, das Zuhören zur Freude machen, zu fesseln. Es gibt Leute, die diese Gabe besitzen. Ob sie nun die Wahrheit sagen oder lügen, stets erregen sie Aufmerksamkeit und halten das Publikum in Atem, und zwar mit dieser speziellen Kunst, Zweifel zu wecken, so dass ihr Werk ganz und gar erfunden scheint, einzig zur Unterhaltung geschaffen.“ (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
![]() Maus
Wie sich einem so singulären Werk wie Art Spiegelmans „Maus“ nähern? Einer Erzählung, wie sie unbedingt notwendig war, von der aber niemand geglaubt hätte, daß es so etwas geben könnte, bis sie erschien? Heftig wurde zum Beispiel darüber debattiert, ob die Form angebracht sei - eine Tierfabel, mit Figuren, wie man sie sonst nur aus Funny Animal Comics à la Micky Maus kennt. Ein Nebendiskurs, der eine Erörterung eigentlich nur lohnte, um die weit größere Verstörung in Worte zu fassen, die der Erzählgegenstand auslöst. Selbst wer mit der Thematisierung des Holocausts schon eine gewisse Erfahrung hat, wird sich Gefühlen des Entsetzens, der Erschütterung und letztlich der Trauer nicht entziehen können, die diese „Geschichte eines Überlebenden“ weckt. Das liegt nicht zuletzt daran, daß der ursprünglich aus Polen stammende Jude Wladek Spiegelman, Art Spiegelmans Vater, alles andere als ein typischer Held ist. Ein altes, wohl zynisches Bonmot sagt, die Geschichte stünde immer auf seiten der Sieger. So neigt man leicht dazu, Holocaust-Überlebende letztlich doch für Gewinner zu halten - die Historie hat ihnen schließlich recht gegeben. Und unter anderen Umständen wäre man durchaus geneigt, Wladek für einen Siegertypen zu halten - schon vor dem Krieg geht er seinen gesellschaftlichen Aufstieg umsichtig, zielstrebig und bisweilen vielleicht skrupellos an. Eigenschaften, die ihm das Überleben im Ghetto, im Untergrund und schließlich im Lager ermöglichen werden. Aber solche Maßstäbe gelten nichts im KZ, erst recht nicht, wenn auch menschliche Regungen wie Anteilnahme, Mitgefühl und Liebe im Spiel sind. Wladek hat überlebt. Aber er hat unmenschlich gelitten. Und aller Umsicht, Mut und Verantwortungsbereitschaft zum Trotz hatte er am Ende doch bloß - Glück. Ein in diesem Kontext zweifelhafter Begriff. Denn nicht nur das Lager, auch das Überleben hat tiefe Spuren hinterlassen. Zum Zeitpunkt seiner Erzählungen ist er ein alter, schwerkranker Mann und penibel bis zur Schrulligkeit. Sein Sohn Art, der die Erinnerungen erst auf Tonband aufzeichnet und dann in einem langwierigen, mühevollen Prozeß der Aneignung zu Papier bringt, hält es schwer aus bei ihm, der in seinem Verhalten stets schwankt zwischen Zuneigung und kauziger Vereinnahmung und ansonsten mit seinen Marotten jeden in seiner Umgebung schier um den Verstand bringen kann. Mit manischem Eifer achtet er darauf, nur ja nichts auch nur halbwegs Brauchbares zu vergeuden, und seine Knauserigkeit ist immer wieder Anlaß für Streit. Aber seine Lagererfahrungen haben ihn ein für alle mal gelehrt, stets auf eine Katastrophe gefaßt zu sein. Für ihn hat es so was wie Frieden seither anscheinend nie mehr wirklich gegeben. Es erscheint auch fast wie ein Wunder, daß nicht nur Wladek, sondern ebenso seine Ehefrau Anja Auschwitz überleben konnten. Bis zu ihrer Verbringung ins Lager konnte er sie beschützen, danach war jeder auf sich gestellt und dem Zufall und der Willkür ausgeliefert, möglicherweise an einen brutalen KZ-Schergen zu geraten. Schon bald nach Kriegsende fanden sie sich jedoch tatsächlich wieder und verließen nur wenige Zeit später endgültig Polen, um über Schweden schließlich in die USA zu gelangen. Dort aber beging Anja Spiegelman 1968 Selbstmord, ohne einen erklärenden Hinweis. Es liegt nahe, die Gründe im nie überwunden Holocaust zu suchen. Art Spiegelman hatte 1967 angefangen, erste Underground-Comix zu veröffentlichen. 1972 erschien von ihm „Gefangener auf dem Höllenplaneten“, eine vierseitige Story, in der er den Suizid seiner Mutter thematisiert. Das und noch ein weiterer Dreiseiter namens „Maus“ aus demselben Jahr zeigten bereits das Trauma, unter dem die gesamte Familie litt - Art hatte es von seinen Eltern geerbt. Diese Ur-„Maus“-Version, noch viel mehr Funny Animal als die ausgearbeitete Fassung, zeigt zwar einen Vater auf der Bettkante, der seinem gespannt lauschenden Jungen die KZ-Erlebnisse als Gute-Nacht-Geschichte erzählt. Die späteren, langen Einschübe, in denen Art Spiegelman ausführlich auf die Gesprächsumstände eingeht, unter denen die Aufzeichnungen der Berichte seines Vaters entstanden, und sie und sein Vorhaben zudem skrupulös reflektiert, dementieren aber die falsche Idylle. Mehrfach klingt statt dessen an, daß diese Erinnerungen wie ein Fluch über Arts Kindheit gelegen haben müssen. Fast zwanzig Jahre hat er schließlich gebraucht, um „Maus“ verwirklichen zu können. Und um genügend Abstand zu gewinnen, damit seinem Vater endlich Gerechtigkeit widerfährt. Wladek Spiegelman hatte wohl nie ein Held sein wollen und ist es vielleicht auch gar nicht gewesen - jedenfalls nicht nach Hollywood-Maßstäben. Aber er hat überlebt. Und das Zeugnis seines Leidens, seines Lebens ist ein großes, so erschütterndes wie ehrfurchtgebietendes Dokument der Menschlichkeit. Unverzichtbar. (Martin Budde) Lesetipps:
![]() Gaston
Am 28. Februar 1957 erschien er erstmals auf der Bildfläche - und stand einfach nur rum. Kein Comic, kein Kommentar, nichts. Wenn es den Anti-Helden im Comic schlechthin gibt, dann ist es Gaston. (Mit Nachnamen übrigens Lagaffe, wörtlich: Missgriff, Missgeschick.) Denn als solchen hatte ihn Andre Franquin (1924-97) ausdrücklich erfunden. Während alle anderen Comic-Figuren der damaligen Zeit noch Woche für Woche brav und erfolgreich ihren Abenteuern nachgingen, war Gaston zunächst nur dazu da, seine Untauglichkeit für jede herkömmliche Verwendung unter Beweis zu stellen. Und so fing er schnell an, die redaktionellen Seiten des “Spirou”-Magazins zu verunsichern bzw. seinen Vorgesetzten Fantasio in dessen Redakteurseigenschaft zu Verzweiflung und Weißglut zu treiben. Gaston war anfangs selten mehr als der Bürotrottel und Prügelknabe. Franquin gab sich mit der Grundidee vollauf zufrieden, das konventionelle Heldenschema durchbrochen zu haben, und der Rest war Klamauk: Wer spielt wem einen Streich? Langsam verschob sich aber der Schwerpunkt aufs “wie”, und nun konnte Gaston sein Potential allmählich entfalten. Mit Phantasie und Beharrlichkeit ging er daran, nach seiner bloßen Anwesenheit auch seine Interessen durchzusetzen. Dazu gehörten alle Arten von Basteleien, Experimente oder musikalische Exzesse, nur keine geregelte Bürotätigkeit. Das solcherart provozierte Establishment schlug, hauptsächlich in Person seines Handlangers Fantasio, häufig recht handgreiflich zurück. Gaston aber quittierte jeden Korrektur- oder Erziehungsversuch mit stoischem Gleichmut. Im übrigen durfte man darauf gefasst sein, dass Gastons Aktivitäten und Einfälle immer wieder absurde Ergebnisse zeitigten. Mitunter genügte dafür sein bloßes Erscheinen, und schon ging es schief. Fehlendes Talent und den Hang zum Missgeschick machte er jedoch durch Enthusiasmus und Engagement mehr als wett. Dass seine Bastelleidenschaft und Experimentierfreude gleichzeitig einen subversiven, ironischen Kommentar zur damals noch allgegenwärtigen Technikbegeisterung - gerade auch im Comic - darstellten, sei nur am Rande erwähnt. (ähnliches ließ Franquin ja ungefähr gleichzeitig im Zyklotrop-Zyklus seiner Hauptserie “Spirou und Fantasio” anklingen.) Man konnte sich aber darauf verlassen: selbst wenn infolgedessen das gesamte Büro in die Luft flog - nie hatte es Gaston böse gemeint. Mit dieser unberechenbaren Mischung aus abstrusen Ideen und unbedarfter Gutmütigkeit hatte Gaston die Redaktion insgeheim schon im Griff. Ihn zur Verantwortung zu ziehen, fruchtete nichts. Stets war er unschuldig wie ein großes Kind. Parallel dazu kam Andre Franquin mit “Spirou und Fantasio” immer schleppender voran. Er empfand diese Serie, die er als junger Spund ohne Erfahrung übernommen und zu ungeahnten Höhen geführt hatte, zunehmend als Tretmühle. Die Lücken in ihrem ehedem kontinuierlichen Erscheinen wurden größer, und an ihre Stelle trat - natürlich Gaston. Ihre vorletzte Episode unter Franquin geriet schon zu einem langen Gaston-Abenteuer, zugleich verdoppelte sich der Umfang von dessen Auftritten zu einer vollen Seite pro Heft. Und schließlich gab Franquin 1968 die Titelserie endgültig ab, um sich nur noch seinem “Büroboten” zu widmen. Nun hatten beide freie Bahn. Auch räumte der bedauernswerte Fantasio jetzt seinen Bürostuhl, und der Nachfolger Demel war bald nur noch ein nervliches Wrack. Längst hatte sich außerdem Gastons Tätigkeitsfeld auf die Nachbarschaft ausgedehnt. Und besonders der ewige Kleinkrieg mit Wachtmeister Knösel, dem Herrn der Knöllchen, gab ihm reichlich zu tun - noch ein Vertreter angemaßter Autorität, dem Gaston seine eigene entgegensetzte: ein urwüchsiges Recht auf Kreativität, ohne einengende Regeln, eine Form des Miteinanders, die nicht von Arbeitszeiten und Parkuhren bestimmt ist. In der 70ern erlebte Gaston seine Hochphase. Seine Ideen wurden immer ausgefeilter ausgefallener und (aber-) witziger - oder die von Franquin. Denn endlich befreit von der ewigen Rücksichtnahme auf bürgerliche Sekundärtugenden konnte der nun seinem anarchischen Einfallsreichtum die Zügel schießen lassen und seinen schwungvollen Zeichenstil weiter entfalten. Wilde Verfolgungen, abstruse Verkettungen waren jetzt sein Metier und “Gaston” nichts anderes als Vitalität pur. Der ehedem unbekümmerte Tolpatsch entwickelte ansatzweise sogar so was wie ökologisches und soziales Bewusstsein - und er begann zarte Bande zu knüpfen zu Fräulein Trudel, ehedem misogynes Mauerblümchen in der Redaktion. Die Serie rundete sich nun; von der anfänglichen Außenseiterklamotte mit bisweilen denunziatorischen Zügen hatte sie sich entwickelt zur lustvollen Konfrontation zwischen kraftvollem Phantasieüberschuss und den zwanghaften Verwertungsinteressen der Arbeitswelt, die den Ausblick freigab auf eine anarchische Utopie. Höhe- und Schlusspunkt der Auseinandersetzung war ein fulminanter Fußtritt für Bruchmüller, den cholerischen Vertreter des Kapitals. Dieser einmalige tätliche Angriff war ein Warnzeichen, dass sich der Konflikt nur noch mit Mühe im Zaum halten ließ. Längst hatte sich auch in Franquins Stil eine forcierte Anspannung eingeschlichen, bis zum Bersten angefüllt mit unterschwelliger Nervosität. Zwischenzeitlich hatte er sich ein Ventil verschafft mit den “Schwarzen Gedanken”, in denen er alle möglichen Formen alltäglichen Irrsinns, vor allem gesellschaftliches Fehlverhalten, scharf karikierte, mit akribischer Wut und bissigem, schwarzem Humor. Doch für eine solche Aggressivität war in “Gaston” kein Platz. Dessen subversive Anschläge auf die Arbeitsmoral hatten freundlich und arglos zu bleiben. Diese Anspannung entlud sich in einer persönlichen Katastrophe. Franquin verfiel einer manifesten Depression, die jede weitere Arbeit blockierte. In den 80er Jahren war es ihm weitestgehend unmöglich zu zeichnen, und als er sich Anfang der 90er Gaston noch einmal für einige Strips vornahm, war diese alte, treibende, schließlich aber zerstörende Kraft verschwunden. Den letzten “Gaston”-Seiten sieht man an, wie vorsichtig, behutsam sie realisiert wurden. Natürlich war seine Gesundheit ein zu hoher Preis. Aber Andre Franquin war in aller Bescheidenheit nie in der Lage, weniger als alles zu geben, wozu er fähig war, und hat sein Limit dabei immer weiter voran getrieben. Entstanden ist auf diese Art ein klarer Beweis, dass auch eine scheinbar kleine Form zu großer Meisterschaft taugt. Mehr noch: “Gaston” ist ein Kunstwerk, das sich nie als solches verstand - gerade deshalb. (Martin Budde) Lesetipps:
Leseproben:
![]() Batman: The Dark Knight Returns
Was für ein Gefühl muß es wohl sein, etwas losgetreten zu haben, das einen kompletten Markt umkrempelte, was sich für immer in das Gesicht eines ganzen Medienzweigs gebrannt hat? Man könnte das zum Beispiel Frank Miller fragen… Er hatte schon einiges auf dem Kerbholz gehabt. Unter seinen Händen war Anfang der achtziger die ausgelutschte Figur des "Daredevil" unerwartet zum Kult mutiert, "Elektra Assassin" hatte auf mehreren Ebenen neue Maßstäbe gesetzt, für "Ronin" hatte er den höchsten Vorschuß abgesahnt, der je für ein Comic gezahlt worden war. Nach all dieser Publicity-trächtigen Vorarbeit war klar, daß seine nächste Arbeit nicht als Insidertip den Markt betreten würde: Die Batman-Story "The Dark Knight" erschien 1986 und schlug ein wie eine Atombombe. Die Kritiker überboten sich mit Komplimenten, die Szene kriegte vor Staunen den Mund nicht mehr zu, die Auflagenzahlen zauberten ein sehr zufriedenes Lächeln auf die Gesichter der DC-Bosse, und dann geschah etwas, das kaum ein Comic je hinkriegt: Batman wurde von einer Comicfigur zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Die Zeitungen riefen das Jahr des Batman aus, sofort trat Hollywood auf den Plan, und durch Tim Burton, der "Batman the Movie" von Anfang an als Merchandising-Monster und Giga-Blockbuster konzipiert hatte, erfuhren sehr bald auch Leute von der Existenz des dunklen Ritters, die noch nie ein Comic von innen gesehen hatten. Das Fledermaus-Logo klebte sehr bald auf allem, was es gibt, und nie zuvor rannten soviele Leute mit Batman-T-Shirt durch die Gegend. Was aber das erstaunlichste an all diesen Entwicklungen war, war die Tatsache, daß hier etwas in den Olymp gehyped wurde, das es tatsächlich verdient hatte. Dieser Comic war nicht bloß angeblich eine Revolution - er war wirklich eine. Was an "The Dark Knight" so schockierte, war die rigorose Ernsthaftigkeit, mit der da jemand eine Geschichte über einen Typen im Fledermauskostüm erzählte. In einer noch nie zuvor gesehenen Hektik drosch da eine durch und durch mit Gewalt und Zynismus aufgeladene Story auf den Leser ein, die auch noch lustvoll in allen wunden Punkten der Psyche des Endachtziger-Reagan-Amerikas herumbohrte - keine nette oder gar besinnliche Unterhaltungsware, hier wurde scharf geschossen. Miller hatte wie kaum jemand zuvor erkannt, was für ein Symbolpotential in der Figur des Batman steckte. Batman war schon immer ein Charakter gewesen, der sich im Gegensatz zu seinem sauberen und braven "großen Bruder" Superman mit dem Dreck, der Nacht, den Schattenseiten, dem Wahnsinn auseinandersetzen mußte. So machte Miller seinen "Dark Knight" zu einem Politikum, einer Tour de Force durch all die negativen Seiten der Gesellschaft, die sich mit biestigen Kommentaren nicht zurückhielt, ganz gleich ob über Medien, Gewalt in den Straßen, Selbstjustiz, Gesetz und Ordnung oder nukleare Kriegsführung. Und als Kirsche auf den Kuchen ließ er den Jahre vorher schon arg in die Credibility-Gosse geratenen Batman zu einem neuen, fantastischen Glanz erblühen - indem er das Ende des Helden erzählte, setzte er ihm die Krone einer Mythenfigur auf. Über die genauere Handlung des ganzen soll hier gar nicht erst ein Wort verloren werden - wenn man irgendeinen Superhelden-Comic der letzten zwanzig Jahre gelesen haben sollte, dann diesen; am besten im Original, um sich direkt von Millers grandioser Macho-Sprache in die Fresse hauen zu lassen. Ach ja: Bedauerlicherweise, ganz ganz bedauerlicherweise hat Miller sich jetzt dazu ködern lassen, einen Teil zwei in die Welt zu setzen. Gemunkelt wird von einer beknackten Story, in der alle Helden die Welt verlassen haben und Batman auszieht, sie zu finden. Es wird grauenvoll werden, egal wie es wird. Wieder einer, der für eine groteske Gage seine Seele verkauft. Frank, was hätte Dein Batman aus dem ersten Teil zu einer solchen Morallosigkeit gesagt? Du würdest in diesem Augenblick mit dem Kopf nach unten an den Gotham Twin Towers baumeln. (Thomas Strauß) Lesetipps:
![]() ACME Novelty Library
Welch ein Wirrwarr. Jeder Versuch, die „ACME Novelty Library“ von Chris Ware - im Herbst 1993 begonnen und im Frühjahr 2000 (vorläufig) abgeschlossen - in eine vernünftige Reihung zu bringen, ist ein zeitraubendes Unterfangen. Wechselnder Umfang und kraß unterschiedliche Formate - von kleinen, querformatigen Broschüren bis zum riesengroßen Heft im Zeitungsformat - sowie eine mitunter kaum auszumachende, vertrackte Numerierung machen es einem nahezu unmöglich, die insgesamt vierzehn Bände sauber in einem Regal oder sonstwo unterzubringen. Auf den ersten Blick faszinierend ist allerdings das altmodische, ornamentüberladene Design jedes einzelnen Titels, das immer wieder anders den Stil der Versandhauskataloge, Werbezettel und Pulphefte zu Beginn des (20.) Jahrhunderts imitiert. Eine gedrängte Fülle an Schnörkeln, Vignetten, Schriftzügen und hochgestochenen, aber mikroskopisch kleinen Reklamesprüchen fesselt und irritiert zugleich die Aufmerksamkeit. Dagegen besticht die Graphik des Inhalts zunächst mit wohltuender Klarheit - bis bei näherem Hinsehen deutlich wird, daß auch hier ein alles durchdringendes graphisches Konzept scheinbar spielerisch, in Wahrheit aber eisern zahllose disparate Einzelteile zusammenhält, ohne daß sie unmittelbar miteinander in Beziehung stünden. In diesem Sammelsurium aus kurzen, cartoonesken Strips, Comic-Episoden, Illustrationen, Diagrammen, Heften im Heft, gefaketen (Klein-) Anzeigenseiten und noch manches mehr gibt es dennoch so was wie einen massiven, inhaltlichen Kern, einen Erzählfaden, so verschlungen der sich auch abwickeln mag. Mehr als die Hälfte der Hefte, nämlich acht Ausgaben, sind unmittelbar einer einzigen Story zuzuordnen: der von „Jimmy Corrigan, The Smartest Kid On Earth“ (und dazu kommen mindestens noch zwei, die frühe Versionen enthalten). Der Titel ist ein blanker Euphemismus, eine großzügige, marktschreierische Übertreibung, denn dieser J.C. ist weder Kid noch smart. Tatsächlich ist er ein farbloser, 36jähriger Sonderling - Angestellter in einem Großraumbüro, ein Muttersöhnchen, furchtbar introvertiert, den eine Aura herzzerreißender Einsamkeit umweht. Sein zutiefst banales, belangloses Dasein schildert Chris Ware in quälend ereignisarmen Momentaufnahmen und absurden Tagträumen, in denen sich sein Protagonist etwa als altertümlicher Blechbüchsenroboter sieht - rundum gepanzert - oder als Sci-Fi-Wunderkind, „The Smartest Kid On Earth“ eben, Pulp-Abenteuer erlebt. Jimmy Corrigans Lebensuntüchtigkeit, seine Unfähigkeit zur Kommunikation wurzeln in einer vaterlosen Kindheit. Das geht aus kurzen Einschüben hervor, die ihn als introvertierten Knaben zeigen, dessen Wahrnehmung die (erwachsene) Wirklichkeit glatt unterläuft. So nimmt seine Geschichte urplötzlich Fahrt auf, als ihn sein verschollener Vater eines Tages bittet, ihn zu besuchen. Diese Begegnung trägt alle Züge eines Fiaskos, denn weder der gutmeinende, aber von Schuldgefühlen geplagte Vater, noch der emotional hilflose und insgeheim von gewalttätigen Rachephantasien verfolgte Sohn kommen mit der Situation einigermaßen klar. Der eine flüchtet sich in belangloses Geplauder, der andere in das, was er am ehesten kann: verwirrtes Schweigen. Dennoch geraten die Verhältnisse über die Dauer von Jimmys Anwesenheit - insgesamt nur wenige Tage - langsam, aber unaufhaltsam in Bewegung. Eingeschoben wird außerdem die Geschichte seines Großvaters, der als Kind ein ähnliches Schicksal erlitt - das bis dahin kohärenteste Kapitel der mäandernden Erzählung. Es scheint fast, als wäre der frühe Elternverlust so etwas wie der Fluch dieser Familie. Und dann überschlagen sich die Ereignisse: Jimmy reist schließlich überstürzt ab, zutiefst verstört. Nur, auch daheim in Chicago hat sich manches verändert. So besteht schließlich die vage Aussicht, daß er aus seinem trostlosen Kokon doch noch herausfindet - ein Fünkchen Hoffnung, mehr nicht, aber immerhin... Bleibt die Frage nach der Einbettung von Chris Wares tragischem Anti-Helden in diesen prätentiösen ACME-Kontext, der einen auffälligen Kontrast zur inneren Leere schafft, die seinen Jimmy Corrigan lähmt. Die aufwendige Ausstattung, das überbordende Design , all das wirkt nur scheinbar widersinnig. In Wahrheit folgt es dem Gestaltungsprinzip des Horror vacui, zu übersetzen mit panischer Angst vor der Leere - et voilà, da hätten wir den inneren Zusammenhang. Endgültig offenbar wird das, wenn man das Kleingedruckte der Pseudo-Anzeigen zum Beispiel wirklich liest: geworben wird da keineswegs für „witzigen“ Schnickschnack, sondern für lebenslange Komplexe, Instant-Schuldgefühle oder perfide Rachegelüste. Eine boshafte Revanche für all die billigen Ersatzbefriedigungen, die früher über solcherart aufgemachte Inserate an ahnungslose, wundergläubige Kinder vertickt wurden. Oder die zahlreichen, akribischen Bastelbögen, die fast jeden ACME-Band zieren: mit ihnen lassen sich Ersatzwelten schaffen, kleine Figuren und Dioramen nach Motiven der Geschichten, die ja an sich ganz niedlich sind und auch garantiert funktionieren. Nur können sie im Zweifelsfall wirklich über ein ungelebtes Leben hinweg trösten? Und was ist davon zu halten, wenn eine der peniblen, jovialen Bastelanleitungen den Tip gibt, bei aufkommenden Schwierigkeiten einen Erwachsenen um Hilfe zu bitten, darüber aber unversehens völlig aus dem Ruder läuft und selbst zu einem einzigen Hilfeschrei nach dem abwesenden Vater mutiert? Keine Frage: die „ACME Novelty Library“ ist ein ausgetüfteltes, vielschichtiges und durchkomponiertes Großunternehmen, beseelt von einem ungeheuren Gestaltungswillen, vor allem aber von einem zentralen Anliegen, das sich massiv, mit aller Wucht auf sämtlichen Ebenen und in jedweder Form Bahn bricht. Unnötig zu erwähnen, daß auch die scheinbar humoristischen Strips, die den Rest der Library ausmachen, in Wahrheit todtraurige Geschichten von Verlust-, Versagens- und Versagungsangst sind. Was so geschmäcklerisch daherkommt, ist somit ein emotional höchst aufwühlendes Opus magnum, das einen beinah erschlägt, so bald man sich näher darauf einläßt. Wer sich diesem beispiellosen Comic-Monument nähert, sollte darauf gefaßt sein, mehr zu bekommen, als er jemals verlangt hat. (Martin Budde) Lesetipps:
![]() Spirou & Fantasio
Franquins Version des Hotelpagen Spirou verhält sich zu "Tim und Struppi" wie John Lennon zu Beethoven oder sagen wir besser wie Nietzsche zu Hegel. Handlungsstränge werden einfach fallengelassen, Ideen (ohne sie groß auf ihre Qualität hin zu testen) kurzerhand eingebaut, Slapstickeinlagen, die manchmal überhaupt nicht lustig sind, auf Kosten der Story in die Länge gezogen, vom Verleger genormte Seitenzahlen über- und unterboten, Abenteuer abrupt abgebrochen, Kollegen zur Fertigstellung von Alben zu Hilfe gerufen, kurz: es wird alles getan, um soetwas wie Kohärenz gar nicht erst auch nur im Ansatz aufkommen zu lassen. Daher ist Andre Franquins Spirou-Run (die Figur hatte Rob Velter in den späten Dreißigern erfunden) wahrscheinlich auch der einzige klassische Abenteuer/Funny-Comic, der in Aphorismen erzählt ist. Bis das von Depressionen geplagte Genie dies jedoch bemerkte und deshalb auf die diesem Prinzip (zumindest aus kulturindustrieller Sicht) näherstehende Onepager-Serie "Gaston" umstieg, hatte er bereits Material für satte 17 Alben (die ersten Gehversuche mal nicht eingerechnet) fertiggestellt. Check this out: "Der Doppelte Fantasio", "QRN ruft Bretzelburg" und "Schnuller und Zyklostrahlen" (Marc Sagemüller) Lesetipps:
Leseproben:
![]() Stray Toasters
Bevor man "Stray Toasters" aufschlägt, sollte man erst noch ein paar mal tief Luft holen, denn weiteres Atmen wird man für die Dauer der Lektüre vergessen. Selbst heute noch, 12 Jahre nach seinem Erscheinen, fühlt man sich beim Betrachten dieses ausschweifenden Stilgebräus, als hätte jemand einem zwanzig Eimer Farbe ins Gesicht geklatscht. Mit dieser Serie erstrahlte Bill Sienkiewicz Ende der achtziger für einen kurzen Augenblick zu einem Jimi Hendrix der Comics – hier war einer, der von A bis Z sein Handwerk beherrschte, kalkuliert explodiert, hatte sich in orgiastischer Schaffenswut den Weg freigezeichnet und dabei so ziemlich jede Regel gebrochen, die dem Begriff „Comiczeichnung“ bis dahin innewohnte. Als der frisch von der Designschule entlassene Sienkiwicz Ende der siebziger feststellen mußte, daß die New Yorker Kunstszene Neulinge nicht eben mit offenen Armen zu empfangen pflegt, stieg er zunächst in die Niederungen der Werbeillustration und der Comics hinab. Mit einem durchtrainierten Stil, der dem Strich vom Marvel-Ikone Neil Adams erstaunlich ähnlich sah, erwarb er sich Respekt als Penciller für Serien wie „Moonknight“ und die „Fantastic Four“. 1985 legte er mit Frank Miller als Szenarist bereits das erste Erdbeben hin: „Elektra Assassin“ war einer der ersten großen Vertreter des neuen Kreativ-Rausch am Comicmarkt, ein smart abgefaßter und farbenschreiender Herold einer neuen Welle von Autoren und Zeichnern, die zu jener Zeit aufbrachen, die dröge gewordene US-Comic-Landschaft mit einer grundlegenden Frischzellenkur zu versorgen. In einigen Ausgaben „The Shadow“ konnte Sienkiewicz seiner Experimentierfreude noch ein wenig schwelen lassen, bis sie in seinem selbstverfaßten, kruden SciFi-Krimi „Stray Toasters“ zur endgültigen Explosion kam. Worum es geht? Der Teufel macht Urlaub in New York, während der alkoholkranke Inspektor Egon Rustemagick einen Frauenmord aufklären muß, der durch einen zum Roboter umfunktionierten Toaster begangen wurde, bei dem ein Kind anwesend war, daß von Rustemagicks Ex-Freundin aufgenommen wird, während ein degenerierter Doktor elektrische Krähen nach ihm ausschickt, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen, bevor... Wer glaubt, daß das alles allein schon reichlich wirr wäre, der wird erst recht durch die kreischende Inszenierung gekillt: eingebettet in mehrere Erzählperspektiven pfeift einem ein wüster Mix aus Feder, Pinsel, Airbrush, Kopiergerät, Materialcollage und was noch alles um die Ohren – ein designerisches Stahlbad, daß bis heute seinesgleichen sucht. Viele haben sich später in so etwas versucht, aber kaum jemand hat dieses Konzept zu so einer Meisterschaft gebracht. „Stray Toasters“ markierte den Höhepunkt einer kurzen, glanzvollen Epoche der fieberhaften Innovation, die damals die US-Szene überkam und Versprechungen auf eine Zukunft machte, die leider nie wirklich eingelöst wurden. Die Karrieren der damaligen Sturm- und Drangkünstler wurden später größtenteils in den mauen Superhelden-Mainstream zurückgesogen, so auch die von Sienkiewicz. Er und seine Mitstreiter waren so weit gegangen, daß sich am Ende kaum noch einer traute, ihnen zu folgen, erst recht die Leser nicht. Jammerschade eigentlich. (Thomas Strauß) Lesetipps:
![]() EC New Trend
"The Big If", Johnny Craig, "Mars Is Heaven", TWO-FISTED TALES, Jack Kamen, "F-86 Sabre Jet", CRIME SUSPENSSTORIES, "Bird-Dogs", Reed Crandall, "The Aliens", WEIRD FANTASY, "A Baby", MAD, "The Small Assassin", Graham Ingels, "When The Cat’s Away", "The Whipping", Harvey Kurtzman, "The Patriots", THE VAULT OF HORROR, "More Blessed To Give", Al Feldstein, PIRACY, "Shoe Button Eye", SHOCK SUSPENSTORIES, George Evans, "He Walked Among Us", Jack Davis, "Custer’s Last Stand", "The Mole", Joe Orlando, "Pipe-Dream", THE HAUNT OF FEAR, "Mud", Bill Elder, "Rubble", John Severin, "Shermlock Shoes", ACES HIGH, "In The Bag", "There Will Come Soft Rains", FRONTLINE COMBAT, "Seep No More", Marie Severin, "The Tryst", TALES FROM THE CRYPT, "The Night Before Christmas", Wallace Wood, "The Master Race", WEIRD SCIENCE FANTASY, Joe Kubert, "Superduperman", Bernie Krigstein, "Under Cover", Al Williamson, "Plucked", WEIRD SCIENCE, Frank Frazetta, "Atom Bomb", PANIC, "Touch And Go", "Hannibal", Alex Toth, IMPACT, "Dying City"... (Marc Sagemüller) Lesetipps:
![]() Blake & Mortimer
Klarer kann die Linie kaum noch sein. Was Ex-Opernbariton Jacobs mit seiner acht Geschichten umfassenden Reihe um den Scotland-Yard-Inspektor Francis Blake und Professor Philip Mortimer schuf, ist nicht nur Vorzeige-Frankobelgisch, mit einer beinahe perversen zeichnerischen Abgehangenheit, sondern ebenso ein Extrem dessen, was im Medium Comic an synchronem Over- und Understatement überhaupt möglich ist. Zunächst Abenteuer-Stories - Krimi, Science Fiction, Fantasy miteinbringend - , sind Alben wie Das Geheimnis von Atlantis, SOS Meteore und vor allem das berühmte Gelbe M eigentlich, darin die berufliche Herkunft ihres Schöpfers bestätigend, reinste Studien in Rhythmus und Harmonie. Zu beinahe überirdisch gekonnter Graphik (wer die für altmodisch hält, werfe einen Blick in Chris Wares ACME Novelty Library und dann einen zurück zu Jacobs) beschert einem der grandios unverquatschte Erzähler Kästchentexte wie „Mortimer rutscht in den Teich!“, wobei das dazugehörige Panel dankbarerweise zeigt, wie Mortimer in den Teich rutscht. Allein die ersten 20 Seiten von SOS Meteore, die Jacobs damit verbringt, Mortimer den längsten, verwirrtesten und spannungsunaufgeladensten Spaziergang der Comicgeschichte machen zu lassen, sind schieres zweckfreies Pathos und mindestens eine Magisterarbeit wert. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
Love and Rockets
Zu Beginn der Achtziger war "Love & Rockets" eine Art SF-Soap, die sich durch einen recht heftigen Spiderman-Einschlag auszeichnete (noch heute lassen sich Spuren der beiden zentralen Spiderman-Zeichner der sechziger Jahre, Steve Ditko und John Romita, bei Gilbert und Jamie finden). Da ging es um Liebe und andere Kleinigkeiten unter jungen Raumschiff-Mechanikern (was auch den inzwischen etwas rätselhaften Titel erklärt). Das SF-Element wurde jedoch schnell zugunsten zweier sehr realistisch gestalteter Mikrokosmen fallengelassen: einem Vorort bzw. Stadtteil von Los Angeles (Jamie) und dem lateinamerikanischen Kaff Palomar (Gilbert). Diese bevölkerten die Gebrüder mit Kleinkriminellen, Bauern, Irren, Punkrockerinnen, Schweinerockern, Dicken, Dünnen, Lesben, Schwulen, Catcherinnen, Homeboys, Homegirls, Deppen, Metallern, Skatern, Auswanderern, Einwanderern etc. (Robert Altman lässt herzlich grüßen). Der Motor, der die Serie seitdem am laufen hält, ist ein aus der Literatur bekanntes Konzept, welches früher mal Entwicklungsroman hieß und mittlerweile (in Anlehnung an die Filmreihe von Francoise Truffaut) in "Antoine Doinel"-Prinzip umbenannt wurde, da führende Wissenschaftler festgestellt haben, dass so etwas wie Entwicklung im idealistischen und humanistischen Sinne nicht wirklich existiert und es stattdessen nur so ein ständiges Hin und Her gibt, das dann am Ende auf den Namen Leben hört. Das mag jetzt vielleicht ein wenig merkwürdig klingen, bedeutet aber nichts anderes, als dass sich die Figuren zusammen mit der Serie verändern und älter werden. Es ist in diesem Zusammenhang zwar schon ungefähr 18793 mal erwähnt worden, ich muss jedoch trotzdem noch ein weiteres mal darauf hinweisen: Maggie Chascarrillo über die diversen Bücher hinweg beim Dickerwerden zuzusehen, ist nicht nur schlichtweg grandios, sondern auch bezeichnend dafür, wie "Love & Rockets" funktioniert. Auch wenn es sicherlich nicht leicht ist, in eine laufende Serie einzusteigen, die beiden bei Reprodukt erschienenen Bücher"Der Tod yon Speedy" (Jamie) und "Das Blut von Palomar" (Gilbert), die den Bänden 7 und 8 der amerikanischen Gesamtausgabe entsprechen, eignen sich hervorragend für Interessierte, die feststellen wollen, ob "Love & Rockets" ihr Ding ist. (Marc Sagemüller) Lesetipps:
![]() The Spirit
Sieht man einmal von frühen Auftragsarbeiten ab, so kann man die Karriere Will Eisners in drei bemerkenswerte Abschnitte aufteilen: Da gibt es seinen Spirit, der sich von 1940 bis 1952 in insgesamt 649 Folgen durch die Sonntags-Supplements amerikanischer Zeitungen kämpfte, das warmherzige (bösmeinende Menschen sagen auch kitschige) Alterswerk und die theoretischen Bücher, die das Medium erstmals auf kommunikationstheoretische Beine stellte. Daß im Comicpantheon einzig der Spirit überleben wird, liegt wohl daran, daß Eisner Zeit seines Lebens ein hoffnungsloser Romantiker geblieben ist; so ein Mensch hat im Zeitalter von MTV und Serienkillern einfach nichts verloren. Der Spirit jedoch besticht durch weit mehr als pure Nostalgie. Ähnlich wie Orson Welles die Sprache des Films neu definierte hat Eisner mit seinen Spirit-Stories dem Medium Comic neue Ausdruckformen verliehen. Es sind seine schrägen Perspektiven, seine meisterhafte Verwendung von Licht und Schatten und schließlich sein perfektes erzählerisches Timing, die den Sprit auch heute noch zu einem Lesevergnügen machen. Dabei orientierte er sich weniger am populären Medium Film, als vielmehr an der zeitgenössischen Literatur und am Theater. Eisners Figuren agieren auf einer Bühne, deren Hintergrund die amerikanische Großstadt ist, und scheinen mitten aus dem prallen Leben gegriffen. Eisner erzählt von Armut und Verelendung, vom hoffnungslosen Dasein einer gesichtslosen Angestelltengesellschaft und von Menschen, die trotz vieler Rückschläge nie die Hoffnung auf ein besseres Leben verlieren. Oft genug tritt seine Hauptfigur, der maskierte Verbrecherjäger Spirit, dabei in den Hintergrund oder dient lediglich als Katalysator, der die Handlung zu ihrem bestmöglichen Ende bringt. Eisners Kunst besteht darin, dem Leser seine Gesellschaftskritik nicht mittels eines platten Naturalismus um die Ohren zu hauen. Seine Stilmittel haben immer Humor und Mitgefühl umfasst. Warmherzig, eben - oder kitschig... (Lutz Göllner) Lesetipps:
![]() Lucky Luke
Lucky Luke von Goscinny und Morris (eigentlich: Maurice de Bevére) gehört zu den Comics, über die mittlerweile vielleicht zu selten ein lobendes Wort verloren wird, da eh jeder wenigstens ein paar Bände ganz selbstverständlich im Regal stehen hat. Das liegt aber mitnichten an irgendwelchen „Bin-damit-aufgewachsen“-Sentimentalitäten, sondern schlicht an der Qualität. Zusammen mit Asterix ist die Westernserie um den Mann, der schneller schiesst als sein Schatten, und dessen Untersatz Jolly Jumper, ein Hegel der Pferde, eine der Wiederundwiederholungslektüren, die sich null abnutzen und einen von der Wiege bis ins Grab begleiten. Das hat seine Gründe: beide Reihen hat Goscinny getextet, Olympier unter den Szenaristen, dessen Einzelstellenkomik ein Nacherzählpotential wie die besten Monty Python - Sketche besitzt. Zusätzlich schafft er es, seinem Revolverhelden in den mit allerlei Wilder-Westen-Facts (Wells Fargo, Siedlertrecks, Stacheldraht, Jesse James, Calamity Jane etc.) angereicherten Bombenstories ernstnehmbare Charakterzüge zu verleihen, was den einsamen Ritt in den Sonnenuntergang (die running Schlussszene) immer wieder überzeugen lässt. Morris ist dabei ein Grossmeister des Minimalismus, dessen Barkeeper oder Kopfgeldjäger schon mal aussehen wie Alfred Hitchcock oder Lee van Cleef, der aber derart karikierende Elemente sparsam am Rande einsetzt und sich mehr auf die spröde, staubig-karge Inszenierung seiner schratigen Figuren konzentriert. Überhaupt ist das alles keine Parodie, sondern völlig in sich funktionierend, dabei aber nicht weniger „authentischen Western“ rüberbringend als Blueberry. Wenn man viele Comics wegwerfen müsste - diesen nicht. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
![]() Peanuts
Die Peanuts-Sonntagsseite vom 11. Oktober 1964: Charlie Browns Schwester Sally ist ganz unbekümmert mit Seilhüpfen beschäftigt, als sie plötzlich innehält und zu weinen anfängt. Besorgt kommt Linus herbeigelaufen und fragt: "Was ist denn los, Sally? Ist was passiert? Warum weinst du so?" Und Sally antwortet ihm: "Ich weiß auch nicht... ich bin seilgesprungen und fühlte mich prima... als mit einmal... alles so vergeblich schien." Hmm, ist das jetzt ein brauchbarer (oder mehr als brauchbarer) Versuch, diesem allseits bekannten Gefühl, wenn einem ohne ersichtlichen Grund der Boden unter den Füßen weggezogen wird, eine ästhetische Form zu verpassen, oder handelt es sich einfach nur um banalen Kitsch, der einen Komplex wie Abgründigkeit dazu benutzt, um Credibility vorzutäuschen und ansonsten über dümmliche Niedlichkeiten und moralinsaure Scheiße funktioniert? Ja, richtig vermutet, ich gehe davon aus, dass ersteres der Fall ist. Denn anstatt eine Auflösung des hier dargestellten Problems zu präsentieren - es also zu entschärfen (Marke: "ist doch nicht so schlimm") - wird selbiges zunächst in seiner ganzen Phänomenalität ausgewalzt und dann erst auf dem letzten Panel dem Leser/Linus staubtrocken und ohne einen Funken Hoffnung an die verdatterte Weichei-Birne geworfen. Die Pointe ist, dass die Pointe gar keine Pointe ist und trotzdem wie eine wirkt. Genial! Diese Sonntagsseite von 1964 steht hier stellvertretend für all die Peanuts-Strips, die Charles M. Schulz (1922-2000) 50 Jahre lang (1950-2000) mit mehr oder minder gleichbleibender Qualität (Konsens ist - und dem schließe ich mich an - dass seine Arbeiten aus den Sechzigern und frühen Siebzigern den Höhepunkt darstellen) und ohne einen einzigen Tag Unterbrechung gezeichnet hat. (Marc Sagemüller) Lesetipps:
Leseproben:
![]() Krazy Kat
Er war trotz der langen Laufzeit nie ein großer Erfolg. Gottseidank gehörte Medien-Tycoon William Randolph Hearst zu seinen fanatischsten Bewunderern und sorgte dafür, daß George Herrimans Zeitungsstrip Krazy Kat bis zu dessen Tod 1944 in seinem New York American veröffentlicht wurde. „Krazy Kat läßt sich mit keinem anderen Comic-Strip davor oder danach vergleichen“, sagt Calvin & Hobbes - Schöpfer Bill Watterson über das Werk, das in ziemlicher Einigkeit als der größte amerikanische Comic überhaupt bezeichnet wird. Pablo Picasso war ebenso Fan wie Gertrude Stein, die Sprachshaker James Joyce den Inhalt der neuesten Folgen durchs Telefon beschrieb, wenn der sie nicht lesen konnte. Das Idiom, in dem Herriman seine Figuren sprechen läßt, ist denn auch als aus verschiedenen Sprachen zusammenbabylonisierte Klitterung von Slangsounds, Neologismen und bis zum Wahn vergnurgsten Puns nicht furchtbar weit von Finnegans Wake entfernt. Doch Krazy Kat schlägt an keiner Stelle, wie es sich für große Kunst gehört, kultursnobistische Krampffalten. Variiert wird im Kern lediglich dieses: Krazy Kat (wahrscheinlich eher weiblich) liebt Ignatz Maus. Ignatz haßt die Katze und ballert ihr Ziegelsteine an den Schädel, um den bei jedem Treffer Herzchen schwirren. Offissa Pupp liebt Krazy und versucht, sie vor der gnatzigen Maus zu schützen. Abspielen tut sich dieses verkorkst-sanfttraurige, mit Humor vom Mars versehene Gefühlsdramolett im wüstenartigen Coconino County, in welchem, wechselnd von Panel zu Panel, Vorhänge auf- und zugehen, seltsame Kakteen zu seltsameren Felsen werden, es plötzlich vom Tag zur Nacht schwenkt und angeknusperte Monde an Fäden vom Himmel hängen. Krazy Kat zeigt nahezu alles, was die Kunstform zu leisten vermag, bleibt dabei aber in seiner stricheligen, schwerelosen Schrägness locker, bescheiden und unfaßbar unantiquiert - ein Strip ohne jeden Makel und derart frisch, als wäre soeben die Tusche getrocknet. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
![]() Conan
„...und dann“, so beschreibt Barry Windsor-Smith gerne das Ende seiner ersten Zeit in Amerika, „kamen zwei freundliche Herren von der Einwanderungsbehörde und zeigten mir den Weg zum Hafen.“ Exit Barry Smith, talentierter, aber keineswegs auffälliger Kirby-Epigone, der als Abschlußarbeit an der königlich-britischen Kunsthochschule eine Neuinterpretation des Kampfes Hulk gegen das Ding abgeliefert hatte und die freundliche Bewerbungsablehnung der Marvel-Redakteurin Marie Severin („Wenn Sie in der Nähe sind, schauen Sie doch vorbei.“) als Aufforderung zur Immigration mißverstand. Im Winter 1969 lebte er zeitweise in New York auf einer Parkbank, ging tagsüber ins Marvel-Büro und zeichnete bis zu seiner Ausweisung jedes Skript, das man ihm vorlegte. Sein Glück war, daß Roy Thomas, damals zweiter Mann im Verlag hinter Stan Lee, dringend einen Zeichner für sein Projekt „Conan The Barbarian“ suchte und dafür auf Barry Smith verfiel. Noch von England aus zeichnete der damals 21jährige die ersten Hefte der Serie. Gleichzeitig bemühte sich der Verlag vor den obersten Gerichtshof der USA, um dem jungen Zeichner als bescheinigtes Genie die Einwanderung zu ermöglichen. Mit der Lösung dieses politischen Problems platzte auch bei Smith der künstlerische Knoten: Das vierte Conan-Heft The Tower Of The Elephant brach radikal mit dem Kirby-Stil. Smith, geschult an den britischen Präraffaeliten und anderen Künstlern des Jugendstils, schuf seine eigene Fantasywelt. Harte Action trat immer mehr in den Hintergrund zugunsten von Mimik, exotischen Landschaften und flächigen Ornamenten. Doch Smith kolidierte zunehmend mit dem amerikanischen Verlangen nach Seiten. „I Must be mad, sitting here drawing all these coins“, versteckte er als Botschaft in einem Panel seines achten Conan-Hefts. Dennoch blieb er bis zur Nummer 24 an Bord. Auch wenn zwei Hefte lediglich Reprint-Material präsentierten und zwei von Gastzeichner Gene Colan waren bleibt Conan doch Smiths beste Arbeit und einer der schönsten runs, den amerikanische Comicserien zu bieten hatten. (Lutz Göllner) Lesetipps:
![]() Spider-Man
Als Spider-Man 1962 in »Amazing Fantasy« 15 an seinen Spinnenweben ins Rampenlicht der Öffentlichkeit schwang, kam dies einer kleinen Revolution gleich. Wohl niemand hätte damals den phänomenalen Erfolg dieser Figur voraussehen können, der heute, nach über drei Jahrzehnten, nicht weniger als vier eigene Reihen gewidmet sind. »Du kannst ihn nicht Spider-Man nennen, weil die Leute Spinnen hassen.« - »Ein Teenager kann doch kein Superheld sein.« - »Du kannst ihm nicht so viele Probleme andichten - er wird nicht mehr heroisch genug erscheinen« - »Ein Held muß groß und stark sein« Stan Lee und Steve Ditko ließen sich von diesen Einwänden nicht beirren und schufen einen der originellsten Superhelden, dessen erstes Heft zum größten Erfolg des Verlages avancierte. Im Gegensatz zu seinen adretten, immer korrekt gekleideten und gut gelaunten Superhelden-Kollegen war Spider-Man ein Mensch mit Ecken und Kanten der mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten genauso zu kämpfen hatte, wie mit seinen Feinden; der nicht nur regelmäßig sein Kostüm, sondern auch sein Liebesleben zu flicken hatte; der zwar jede Menge Sorgen hatte, aber immer auch einen flotten Spruch auf den Lippen führte, mag die Situation auch noch sie aussichtslos sein. Die Ursprungsgeschichte verläuft noch nach Schema F: Der Highschool-Schüler Peter Parker wird von einer radioaktiven Spinne gebissen und erhält dadurch deren proportionale Kraft und Wendigkeit. Mit seinen hervorragenden Chemiekenntnissen entwickelt er synthetische Spinnweben, die er aus kleinen Düsen an den Handgelenken hervorschießen und daran durch Manhattans Häuserschluchten schwingen kann. Der Mord an seinem Onkel Ben, den er hätte verhindern können, führt ihn zu der Erkenntnis, daß »mit großer Macht auch große Verantwortung einhergeht«, und so widmet er sein weiteres Leben der Verbrechensbekämpfung. Im Gegensatz zu andern Superhelden wird er jedoch nicht bewundert, sondern von der Polizei gejagt und von seinen Mitbürgern gefürchtet. Wie keine zweite Figur verkörpert Spider-Man den Marvel-Kosmos, und auch wenn seine Anfangsjahre gegen die heutige Inflation von grafischer Gewalt und inhaltlicher Leere recht antiquiert wirken, sind sie doch immer noch herrlich unterhaltsam. (Cord Wiljes) Lesetipps:
![]() Johann & Pfiffikus
Natürlich ist er der Meister der Schlümpfe. Mit seinem rundlichen, geschmeidigen Stil konnte wohl Pierre Culliford alias Peyo (1928-1992) gar nicht anders, als früher oder später den Niedlichkeitsnerv eines Massenpublikums mitten ins Mark zu treffen. Nichts ist jedoch absturzgefährdeter als ein „Oh, wie süß!“-Faktor, vor allem, wenn man ihn noch mit Merchandise-Müll und mediokren Zeichentrickfilmchen traktiert. Das konnte einem das zweifellos berechtigte Vergnügen an den frühen Schlumpf-Geschichten gründlich vermiesen, und dazu hätte es Vader Abraham noch nicht mal gebraucht. Eine Misere, die Peyo sogar nach Kräften gefördert hat. Und während die blauen Zwerge über die Bildschirme tollten, durch komische Kakao-Werbung zogen und natürlich als PVC-Püppchen in albernsten Verkleidungen aus unzähligen Setzkästen purzelten, hatten ihre eigentlichen Entdecker darunter am meisten zu leiden. 1958 betraten Johann und Pfiffikus erstmals das „Verwunschene Land“, Heimat der Schlümpfe. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits fest etabliert. Johann verkörperte als Page eines sympathischen Königs in einem kleinen Mittelalter-Reich die klassischen Rittertugenden, stets edel, hilfreich und gut. Dasselbe ließe sich auch von seinem treuen Begleiter und Knappen Pfiffikus sagen - klein, aber oho -, wäre er weniger temperamentvoll, verfressen, aufschneiderisch, musikliebend (obwohl völlig unmusikalisch) und in ruhigeren Zeiten eine einzige Landplage - kurz: wäre er nicht Pfiffikus. Dieses ungleiche Gespann hatte bis dahin trotzdem gemeinsam, umsichtig und tollkühn in fünf Jahren und sechs Alben zahlreiche Schurken schachmatt gesetzt, manchen Spuk beendet sowie Witwen und Waisen beschützt. Damit zählten sie ohne Zweifel zu den Stars des „Spirou“-Magazins. Und dann begegneten ihnen zufällig die Schlümpfe... Auch mit den blauen Wichteln ließ der Reiz ihrer Abenteuer keineswegs nach. Nur wurden sie sie erst nicht mehr los, dann ihre Auftritte zunehmend seltener, und schließlich verschwanden sie sogar ganz, weil Peyo vor lauter Schlümpfen schlicht keine Zeit mehr für sie fand. Wie er seine Comic-Aktivitäten letztlich überhaupt nahezu einstellte, da er sich fast nur noch um die Zweit-, Dritt- und Viertverwurstung seines Mega-Erfolgs mit den Miniwesen kümmerte. So lag jahrelang ein Szenario für eine weitere „Johann und Pfiffikus“-Episode in Peyos Schublade, aber erst nach seinem plötzlichen Tod wurde es unter Federführung seines Sohnes Thierry von Zeichnern aus dem schon lange vorher gegründeten Studio Peyo realisiert. (Und noch zwei weitere folgten seitdem, neben einigen Schlumpf-Bänden!) Peyos Rückzug aus dem Comic-Geschäft war insofern schade, als seine überaus klare, eingängige Graphik und sein Gespür für unterhaltsames Geschichtenerzählen ihn binnen weniger Jahre zu einem Meister und vielleicht den typischsten Vertreter der „Ecole Marcinelle“ gemacht hatten, jener Stilmischung der „Spirou“-Equipe, die sich bei aller individuellen Verschiedenheit in ihrer Dynamik deutlich - und zwar wohltuend - absetzte vom damals für vorbildlich gehaltenen, aufgeräumten und „sauberen“ Strich à la Hergé. Dabei hatte man Peyo als absoluten Autodidakten erst Jahre später zu „Spirou“ geholt, nachdem seine einstigen Arbeitskollegen Franquin, Morris und Eddy Paape dort bereits 1946 das Heft in die Hand genommen hatten. In dieser Zeit suchte Peyo noch seinen Stil, konnte aber auch schon 1946 in einer belgischen Zeitung erste, sporadische Gag-Strips um einen Pagen namens Johann veröffentlichen. Der sah allerdings noch aus wie eine unbeholfene Kopie von Tim, mit blonden Schillerlocken! Nachdem sich sein Strich soweit gefestigt hatte, daß von 1952 an Johanns Abenteuer in „Spirou“ erschienen, so betrachtete Peyo selbst rückblickend auch die beiden ersten Episoden dort noch als Abschluß seiner langen Anlaufphase, in der er ihn zudem Kollege Franquin gelegentlich mit Tips unterstützte. Der Durchbruch kam 1954, als Pfiffikus auftauchte - und einfach blieb, obwohl nicht unbedingt vorgesehen. Nun hatte Peyo seine Idealbesetzung gefunden, und seine im Grunde recht einfachen, geradlinigen Plots bekamen durch Pfiffikus‘ Auftreten, dessen überschäumendes, bisweilen kaum zu bändigendes Temperament jene Energie und die notwendigen Aus- und Abschweifungen, durch die die Serie bis heute so lebendig erscheint. Dazu noch der Aufschwung der Graphik in den folgenden Jahren bis auf meisterliche Höhen - im Grunde ruht der nachmalige Erfolg der Schlümpfe auf den Schultern dieser Comic-Riesen. Ein waghalsiges, letztlich aber ein versöhnliches Bild. Mochten sie danach auch hinter ihre Zufallsbekanntschaft zurücktreten, es war ein Rückzug in Würde. Die Abenteuer von Johann und Pfiffikus sind heute Klassiker, ihr Auftritt hat fraglos Comic-Geschichte geschrieben. (Martin Budde) Lesetipps:
![]() Cages
Ende der achtziger Jahre war der Brite Dave McKean einer der angesagtesten Zeichner der Stunde. Sein Debut „Violent Cases” hatte ihn (und seinen künftigen Leibszenaristen Neil Gaiman) direkt in die Ehrenloge der Comicszene katapultiert – sein gekonnter Fotorealismus und seine extrem hippen Collagetechniken ließen Kritiker und Leser reihenweise aus den Schuhen kippen. Doch während die Welt nach mehr schrie, war der Meister selbst bereits von seinem eigenen Oevre gelangweilt. Für McKean war das alles nichts als bloßes Handwerk, das überdies den meisten Stories eher schadete als nützte; natürlich war das Artwork von Bänden wie „Der Tag der Narren“ augendurchbohrend, lenkte aber letztlich mehr von der Geschichte ab, als sie zu erzählen. McKean beschloß, zunächst nur Cover zu machen und nebenbei an seinem ersten komplett selbstverfaßten Comic zu arbeiten – in einem neuen Stil, der seiner Geschichte dienlich sein sollte, statt sie zu überstrahlen. Mit „Cages“ hatte er sich reichlich viel vorgenommen. Schon der pathetische, mythische Prolog im ersten Heft deutete an, daß es hier um nichts weniger gehen sollte als um das Leben, das Universum und den Rest; die definitive Meditation über „Schöpfung“ stand zu erwarten, und zwar in allen nur denkbaren Bedeutungen des Wortes. Eine auf zehn Teile angelegte Serie, die McKeans Weltverständnis von Kunst, Musik und Literatur auf den Punkt bringen sollte. Ein heeres Unterfangen: acht Jahre und zwei Verlagswechsel sollte es dauern, bis die Reihe ihren Abschluß fand. Was allerdings da auf 500 Seiten auf den Leser zurollt, ist schlichtweg einer der schönsten, schillerndsten und faszinierensten Arbeiten, die sich je in die Annalen der Comicgeschichte eingegraben haben. Erzählt wird die Geschichte des Malers Leo Sabarsky, der auf der Suche nach Inspiration und einem neuen Lebensanfang in ein verwunschen anmutendes Londoner Viertel zieht. Ehe er sich versieht, steckt er bereits mitten in einem Universum voller erstaunlicher Persönlichkeiten, in der sich Situationen von typisch britischer Schrägheit abwechseln mit hinreißenden Dialogen über Gott, Jazz, Sex und Katzen. Die grazilen Federzeichnungen, die als einzige Nuance zwischen schwarz und weiß nur einen kühlen Blaugrau-Ton zulassen, werden wohldosiert von fiebrigen, Traumsequenz-artigen Interludes durchbrochen, in denen McKean ein Feuerwerk seiner Collagekunst auf den Leser losläßt. Aus jedem Panel in „Cages“ strahlt einem eine Schaffens- und Experimentierfreude entgegen, die nur von Leuten erreicht wird, die auf große Entdeckungsreise in ihren Parametern gehen. Genau für so was hat man einst die Worte „Artwork“ und „grafisches Erzählen“ erfunden. (Thomas Strauß) Lesetipps:
![]() Calvin & Hobbes
Ein Kind, das permanent seine Umgebung terrorisiert, weil es partout nur das tun möchte, was ihm gefällt? Das ist nicht komisch, außer im Comic. Calvin ist so ein Comic-Kind, wie es sie seit den Anfängen des Mediums immer gegeben hat: Vom „Yellow Kid“ und seinen Kumpanen bis zum „kleinen Spirou“ durften sich diese Gören auf dem Papier danebenbenehmen, daß die Fetzen nur so flogen. Und es hat amüsiert. Wohl weil diesen Comic-Kindern das abgeht - bzw. weil sie dagegen rebellieren -, was ihr erwachseneres Publikum zu genüge genossen hat: Erziehung. Der Kontrast zwischen Ungezogenheit und comme il faut ist fundamental - bei Freud etwa heißt er Natur und Kultur - und immer für einen Lacher gut, denn jeder reibt sich auf irgendeine Weise daran. Calvin ist deshalb kein echter, sechsjähriger Erstkläßler. Er und all die anderen Comic-Kids seiner Art sind junge Wilde, dazu da, diesen ominösen Gegensatz stellvertretend für ihre bravere Leserschaft offen auszutragen und ihn so zu entschärfen. Die Calvin-Methode hat allerdings Charme: Seine unerschöpfliche Phantasie und sein impulshafter Charakter ermöglichen es ihm, sich fast jeder pädagogischen Zumutung spielerisch zu entziehen. Und sie verschaffen ihm den dringend erforderlichen Rückhalt in der tagtäglichen Auseinandersetzung mit einer ganzen Zivilisation: seinen Plüschtiger Hobbes. Mag er auch für alle anderen ein Stofftier sein und bleiben, für Calvin ist er wirklicher als die Wirklichkeit - mit ihm kann er alle Interessen wie auch Gedanken und Ansichten teilen. Hobbes macht alles mit, wird ihm nie widersprechen (auch wenn er bisweilen seine eigenen Auffasungen hat, besonders Tiger betreffend) und weiß darüber hinaus gelegentlich mit freundschaftlichem Rat Calvin aus so mancher Klemme zu helfen. Man könnte sogar sagen, Hobbes ist häufig die etwas klügere Hälfte des für gewöhnlich unzertrennlichen Gespanns. Daneben beschreitet Calvin aber auch öfter Solopfade und schlüpft in Alter Egos, die er meist gängigen Trivialmythen entlehnt - ob als Spaceman Spiff, Privatdetektiv Trigger Bullet, als Superheld „Stupendous Man“ alias „der Unfaßbare“, oder wenn er einfach als Tyrannosaurus Rex durch die Gegend stapft, stets geht er ganz und gar in seiner Vorstellungswelt auf. Zumindest solange, bis ihn die Wirklichkeit einholt und ihn aufgebrachte Eltern, verärgerte Lehrer oder eine wütende Babysitterin zur Rede stellen. Allerdings zeigt sich nicht erst im Repertoire seiner Phantasiewelten, daß Calvin im Zweifel über mächtige Komplizen verfügt, die helfen, das Konzept einer Erziehung beständig zu unterlaufen: die modernen Massenmedien, allen voran natürlich das Fernsehen (Comics im übrigen auch). Calvin ist ein begeisterter und vor allem bekennender Vielseher, denn mit den bequemen und billigen Ersatzwirklichkeiten kommt gleichzeitig auch die Medienkritik frei Haus. Calvin weiß also, was er da tut, wenn er apathisch vor dem Fernseher versinkt - und genießt es trotzdem. In dieser Hinsicht ist er ein „aufgeklärter Wilder“. Und ein getreues Spiegelbild der durch und durch vernunftorientierten Informationsgesellschaft, die einerseits auf den Rationalitätsdruck mit wachsender Faszination am Irrationalen reagiert und ansonsten unbequeme Konsequenzen konsequent ignoriert. Was andernorts zumal in Zeiten schwindender Verbindlichkeiten bedenklich sein mag - in „Calvin & Hobbes“ wird es allemal dadurch gebannt, daß Mächte existieren, die Calvins Unvernunft zügeln: die Gesamtheit der offiziellen Erziehungsbeauftragten eben. „Calvin & Hobbes“ ist aber noch mehr als ein witziger, einfallsreicher Kommentar zum „Unbehagen an der Kultur“ (wiederum Freud). In der Kindperspektive erschließt sich zwischen all den Allmachtsphantasien Calvins, seinen Ängsten, überzogenen Ansprüchen und alltäglichen Niederlagen noch einmal der Spaß am Abenteuer Heranwachsen, das spielerische Freiräume ausschöpft und kreative Fragen und Antworten umfaßt. Es scheint, als habe ein Teil davon auch auf Bill Watterson selbst, Calvins Urheber, abgefärbt, der in seinem Strip immer wieder nach originellen, ungewöhnlichen Ansichten gesucht und zäh darum gekämpft hat, sie verwirklichen zu können. Von Anfang an - Ende 1985 - wußte er, daß die Funktionsweise des Comics ihm die optimale Möglichkeit bot, die Perspektivwechsel zwischen Calvin und seiner Umgebung zu visualisieren; und diese Methode des Hin- und Herschaltens hat er über Jahre weiter verfeinert - mit zum Teil überraschenden graphischen Ergebnissen. Trotzdem scheint es unausweichlich, daß jedem Spiel irgendwann die Erstarrung zur Routine droht. Auch wenn es länger dauert und zahlreiche Varianten es zusätzlich hinauszögern: Eines Tages hat man die Regeln kapiert. Man könnte zwar noch eine ganze Weile weitermachen wie gehabt, aber es wäre nicht mehr dasselbe. Watterson hat schließlich gespürt, daß ihm genau diese Sackgasse einmal bevorstünde. So hat er von sich aus den Schlußstrich gezogen und - ungewöhnlich genug - seinen überaus erfolgreichen Comic strip Anfang 1996 eingestellt. Nicht umsonst lautet ja die einzige Regel bei Calvinball, daß man es nie zweimal nach den gleichen Regeln spielen darf. Tut man es trotzdem, beginnt das Lernen. Und wie sagte Hobbes einmal dazu? „Leben und nicht lernen, das sind wir!“ Gut gebrüllt, Tiger. Dabei mag es denn bleiben. (Martin Budde) Lesetipps:
Platz 26 Alles
Angeblich soll Alex Toth (übrigens hat mir bis heute keiner sagen können, wie man das vernünftig ausspricht. Folgende unbefriedigende Angebote gibt es: "Tott", "Tohss" und "Tuhss" (fehl eigentlich nur noch "Tut", "Tröt" und "Tööhröööh"). Wer kann weiterhelfen? Auf Zuruf!) ja eine total reaktionäre Arschgeige sein. Von mir aus. Als bester Comiczeichner der Welt soll er sein Recht auf Meinungsfreiheit ruhig voll auskosten... Momentchen mal, hör ich die Leude jetzt intervenieren, bester Comiczeichner der Welt? Ditt soll wohl ’n Witz sein? Nee, denn in diesem Fall ist ausschließlich das gemeint, was man unter dem hochgradig problematischen Begriff Zeichenkunst versteht. Der irgendwann in den Zwanzigern geborene Bartträger schafft es nämlich wie kein/e zweite/r, das Verhältnis zwischen den alles bestimmenden Parametern Zeigen, Andeuten und Weglassen so, ich möchte fast sagen: essentiell, auszuloten. Jedes seiner Panels stellt erneut die Frage nach der Substanz, der dort dargestellten Situation und spült gnadenlos all die überflüssigen Informationen ab durchs Klo nach Mittelerde, wo sie hingehören. Der Clou dabei ist - und jetzt aufgemerkt! -, dass sich seine Arbeiten (hier ein paar Geschichtchen für DC und Warren, da einige Zorro-Hefte für Dell, hier drei kleine Gastauftritte bei EC etc) durch eine inhaltliche und thematische Belanglosigkeit auszeichnen, die sich gewaschen hat. Toth geht es allein um Form, Form und nochmals Form, was ihn nicht nur zum besten, sondern auch zum abstraktesten aller Comiczeichner macht. Holt euch seine ausgerechnet bei Image erschienene Zorro-Gesamtausgabe, lest diesen superheißen Gourmetscheiß, fallt in Ohnmacht und verratet mir endlich, wie dieser Vogel ausgesprochen wird. (Marc Sagemüller) Lesetipps:
![]() Modesty Blaise
Modesty Blaise war der erste Multimediagriff der Unterhaltungskultur (als Comic, Buch und Film mit der bedrückenden Monica Vitti und schließlich sogar im Fernsehen). Der erste Modesty-Strip erschien 1963 im Londoner Evening Standard. Als Zeichner hatte sich der Autor Peter O’Donnell den Zeitungsveteranen Jim Holdaway ausgeguckt. Eine gute Wahl, denn Holdaway blieb dem Strip bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1970 treu. Erst 1965 debütierte Modesty Blaise als Romanfigur, doch trat hier ein merkwürdiger Effekt ein: Die vollkommen durchgeknallten Plots von O’Donnells Romanen, die sich oft nicht um Wahrscheinlichkeit und innere Logik scherten, lasen sich weit comichafter als der Comic-Strip selbst, da sie nur Abfallprodukt der Comics um die tödliche Lady waren. Modesty war ein typisches Produkt der swinging sixties und ist so britisch wie die Beatles. Sie ist eine ehemalige Diebin, die eine mafiaähnliche Bande hochgezogen hat, stinkreich geworden ist und sich inzwischen ehrlich gemacht hat. Von Zeit zu Zeit nimmt der britische Geheimdienst ihre Dienste und die ihrer Organisation in Anspruch, meist jedoch lebt sie in den Tag hinein und verbringt ihre Tage auf der Jagd nach Antiquitäten und Sex (ja, sie hat schon in den Sechzigern selbstbestimmten Sex, damals eine Revolution). Ihr zur Seite steht ihr treuer Freund Willie Garvin, ein Nahkampfexperte, der sich ironischerweise vor Feuerwaffen fürchtet. Die Plots, die sich O’Donnell für die Romane und die Zeitungstrips ausdenkt, bewegen sich oft an der Debilitätsgrenze, sind jedoch immer unterhaltsam und spannend, Pulpliteratur im besten Sinne des Wortes. Im Gegensatz zu vielen anderen täglich erscheinenden Zeitungsstrips verzichteten O’Donnell und Holdaway auf die üblichen Rekapitulationen des bisher Geschehenen. Dadurch entsteht ein flüssiger Handlungsablauf. Der Grund dafür: Die Abenteuer der tödlichen Lady wurden von vornherein seitenweise konzipiert und nicht, wie sonst üblich, von Tag zu Tag. Dadurch entsteht ein gleichbleibender Lesefluss. O’Donnell schrieb immer erst ein Drehbuch, bevor er sich mit den Zeichnern besprach. Jim Holdaway war ein Meister seines Faches, der sich ganz genau überlegte, welche Perspektive für die jeweilige Szene notwendig war. Er arbeitete sehr filmisch mit Schnitt/Gegenschnitt, durch große schwarze und weiße Flächen schuf er Kontraste und durch gezielte Schraffierungen erreichte er Grautöne, die den Strips erst ihre Atmosphäre gaben (wer sagt eigentlich, das Comics immer bunt sein müssen?). Holdaway verstand es auch, den Comics einen sehr verhaltenen britischen Sex zu geben. Eine nackte Schulter oder ein entblößtes Bein von Holdaway hatte mehr Sex als die Monstertitten-Modesty seines Nachfolgers Enrique Badia-Romero. Dieser konnte erwartungsgemäß den hohen Standard der Serie nicht halten. Dazu kamen Schwierigkeiten im Verständnis, denn Romero sprach nur sehr schlecht Englisch. 1978 gab Romero die Serie dann zunächst an John Burns ab, der jedoch bereits nach 12 Monaten das Handtuch warf. Es folgte ein zehnmonatiges Gastspiel von Patrick Wright, bevor Modesty für die nächsten sieben Jahre äußerst kompetent von Neville Colvin gezeichnet wurde. Inzwischen war auch Romero wieder auf den Geschmack gekommen (und hatte vermutlich auch besser Englisch gelernt): Seit 1986 ist er wieder O’Donnells Kollaborateur. Erwähnenswert auch, das Miramax Mitte der neunziger Jahre an einem neuen Filmscript arbeitete und DC in dieser Zeit eine von Dick Giordino wunderbar altmodisch gezeichnete Version des ersten Romans veröffentlichte. Leider sind inzwischen alle O’Donnell-Veröffentlichungen auf deutsch vergriffen. Das gilt für die elf Bücher, die zwischen 1965 und 1985 entstanden sind und bei Rowohlt veröffentlicht wurden, genauso wie für die neun Comicbände, die das gesamte Schaffen von Holdaway sammelten und bei Carlsen erschienen sind. Heute ist O’Donnell 80 Jahre alt und schreibt nur noch den täglichen Strip. Allerdings hat er Modestys Abschied wunderbar vorbereitet: In dem 1996 erschienenen Roman "Cobra Trip" sind Modesty und ihr Freund Willie alt geworden und werden ein letztes Mal vom Geheimdienst reaktiviert. (Lutz Göllner) Lesetipps:
![]() Wash Tubbs & Captain Easy
Da haben wir es wieder: Alan Moore ist eben nicht nur Genie und Superkiffer sondern auch noch Fuchs und Kenner. Als er 1996 den Image-Superman Supreme in "The Land Of A Thousand Supremes" (Supreme Vol. 2 #41) auf etliche Parallel-Supremes treffen lässt, wird ihm von seiner Majestät Supreme dem Fünften auch Original-Supreme vorgestellt. Der erzählt ihm dann, dass er Anfang der zwanziger Jahre als Sohn des Ehepaares Crane zur Welt kam und eigentlich nur ein kleiner Knirps mit Brille und Haartolle war, bis er in einer Höhle die silberne Gürtelschnalle fand, mit deren Hilfe er sich von da an in einen Superhelden verwandeln konnte. Wer weiss wie Roy Cranes Zeitungsstripfigur Washington Tubbs aussieht, dürfte die Botschaft gecheckt haben: Neben Beck, Kirby, Simon, Siegel, Shuster und Kane, welche die allseits bekannten Superhelden Captain Marvel, Batman und Superman erfunden haben, war auch noch ein gewisser Roy Crane mit seiner Serie "Wash Tubbs & Captain Easy" (1924-43) bei der Fundamentlegung für dieses krumme aber im Prinzip irgendwie doch echt legendäre Genre mit von der Partie. Was man neben dieser zugegeben reichlich historischen Info vielleicht auch noch erwähnen sollte ist, dass Cranes Duo-Tone-Technik, die er ab den frühen dreißiger Jahren bei den schwarzweißen Tagesstrips einzusetzen beginnt, seinesgleichen sucht und nicht findet, dass seine Sonntagsseiten, die ab 1933 unter dem Namen "Captain Easy, Soldier Of Fortune" laufen, in ihrer komplexen Einfachheit ähnlich eyepopping daherkommen und dass das Ganze auch heute noch avec höchster Pläsier gelesen werden kann. Mit anderen Worten, ein Meisterwerk von Buddahs Gnaden. (Marc Sagemüller)
![]() Theodor Pussel
Man denke sich eine Mischung aus Tim und Struppi und Corto Maltese, gewürzt mit etwas Baudelaire und Joseph Conrad. Pussel ist beinahe so rundköpfig wie der Reporter Tim, und wie der lässt er sich auf jedes Abenteuer ein. Es folgt ihm aber nicht ein kleiner weißer Hund, sondern der zwielichtige, schwarz gewandete Herr November, der sich eines Abends Baudelaire zitierend als Theos Schicksal vorstellt: „O bitter Wissen, eingeheimst auf Reisen...“ Herrn Novembers düstere Prophezeiungen gehen in Erfüllung. Theodor macht sich auf den Weg nach China, und auf der Suche nach einem verschollenen Onkel, dem Kapitän Stien (nicht Haddock!), gerät er in die Irrungen und Wirrungen der Weltgeschichte. Auf seltsamen Wegen kommt er sogar zu einem Schiff und wird selbst Kapitän. Zeitlich gesehen ist Pussel nur wenig später unterwegs als Corto Maltese; Theos Terrain ist jedoch nicht Europa oder Südamerika, sondern das koloniale Vielvölkergewimmel Ostasiens in den zwanziger und dreißiger Jahren. Wie Corto wird Theo geradezu magisch angezogen von Schätzen und Geheimnissen, denen er von einem Land ins andere nachjagt, um auf Piraten, Radschas, Opiumsüchtige, Assassinen und schöne Frauen zu treffen - und am Ende (wie Corto) meist mit leeren Händen dazustehen. Und Herr November, der so gern Schicksal spielt, verfolgt ganz undurchsichtige Pläne. Sechs Bände füllt diese erste Reise Theodors, die die bisher erschienenen anderen vier enthalten Kindheitserinnerungen, Theos Abenteuer in Malaysia sowie eine Traumepisode, die zeitlich zu den ersten sechs Bänden gehört. Die erste Idee für seinen Helden fand Le Gall im Tagebuch eines Seemanns namens Theodore C. Le Coq, dem er die ersten Seiten für seinen Comic entnahm, die weiteren Abenteuer Pussels sind jedoch erfunden. Le Gall erzählt farbig und temporeich, streckenweise verwendet er eine Erzähltechnik wie Joseph Conrad in „Lord Jim“: Immer wieder setzt er bei Nebenfiguren an und arbeitet sich langsam zum Kern der Geschichte vor. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um ein gut lesbares See- und Abenteuergarn, doch auf den zweiten Blick enthüllt Theos Geschichte das Doppelgesicht der menschlichen Natur. „Theodor Pussel“ wurde 1992 mit dem Max-und-Moritz-Preis der Stadt Erlangen ausgezeichnet. (Gerlinde Althoff) Lesetipps:
![]() Monsieur Jean
Männer, die 30 werden und bis dahin noch keiner Frau erfolgreich den Hof gemacht haben, müssen in manchen Gegenden dafür den Rathausplatz o.ä. fegen (solange übrigens, bis eine „Jungfrau“ sie freiküßt). Monsieur Jean, den anscheinend alle Welt nur beim Vornamen nennt, hat dieses Problem in der Großstadt Paris nicht zu gewärtigen. Trotzdem - oder gerade deshalb - schlägt ihm sein 30. Geburtstag schwer aufs Gemüt. Er ist jemand, der nur sehr zögerlich älter, erwachsen werden will und viel Zeit mit Erinnerungen und Reflexionen verbringt, vor allem, wenn es um verflossene Liebschaften geht (und davon gibt es im Leben Monsieur Jeans immerhin einige...). Die zauberhafte Leichtigkeit und die bittersüße Schwere einer jeden Beziehung, vom Glücksversprechen zu Anfang bis zu den traurigen Momenten der Trennung, faszinieren ihn gleichermaßen - von den alltäglichen Mühen dazwischen hält er allerdings vermutlich nicht viel. Er ist eben ein Romantiker, ein Schwerenöter und Herzensbrecher in einem. Selten genug hat es Comics gegeben, in denen alles - von der Haltung der Hauptfiguren über die Struktur der Erzählung bis hin zu ihrer äußeren Form - so sehr einem gemeinsamen Grundton verpflichtet ist wie in „Monsieur Jean“: So spielerisch wie das Verhalten des Helden mit seinem nur zögernden sich Ein- wie Loslassen kommen auch die einzelnen Geschichten daher, die sich anekdotisch, scheinbar absichtslos als lockerer Reigen aus (Tag-) Träumen, Alltagsmomenten und Reminiszenzen trotzdem im Laufe der Jahre zu einer Vita summieren. Verharrt Monsieur Jean dabei zumeist passiv und quasi zeitlos, so sorgen äußere Umstände für die korrekte Chronologie - sein Freundeskreis erlebt berufliche wie private Erfolge und Mißerfolge, er selbst bekommt Aufträge und Auftritte (und drückt sich gerne drumrum). Kurz: man kann Monsieur Jean doch beim Älterwerden zuschauen. Das geht zwar verlangsamt vonstatten, tut aber gar nicht so weh, wie er immer befürchtet. Im Gegenteil: selbst seine Krise zum 30. Geburtstag löst sich in Wohlgefallen auf, zuletzt ist es - wie so oft - höchst amüsant (mag auch mancher Scherz schon auf Kosten Jeans gehen...). Und immer mit Stil, denn seine Urheber Charles Berbérian (*1959) und Philippe Dupuy (*1960) - sie schreiben und zeichnen die Abenteuer ihres Monsieur Jean gemeinsam (!) - folgen der Nouvelle Ligne Claire, wie ihr Pariser Freundeskreis sie in den 80er Jahren entwickelte. Während die meisten von ihnen, darunter Serge Clerc und Ted Benoît, sich allerdings seither aus dem Comic-Geschäft weitgehend zurückgezogen haben und Yves Chaland als ihr populärster Vertreter schon 1990 verstarb, hat sich Monsieur Jean erst in den 90ern richtig entfaltet. Nicht zuletzt, weil die „Neue klare Linie“ hier perfekt zu ihrem Sujet paßt, so retro und urban, wie sie ist, und gleichzeitig aufgeschlossen, gar utopisch genug, um nicht in Nostalgie zu versinken. Außerdem lassen sich Dupuy und Berbérian genug Zeit, um in ihrer sicher aufwendigeren Form der Kooperation Inhalt und Form perfekt in Einklang zu bringen. Sie sind nicht darauf angewiesen, zügig zu arbeiten, denn außer mit ihren Comics sind sie auch als Illustratoren erfolgreich. Insofern ähneln sie selbst Monsieur Jean, der sich von selbst nie so recht festlegt, was dann gegebenenfalls andere für ihn tun. Lieber hängt er weiter seiner Vergangenheit nach, träumt in die Zukunft und hofft vor allem auf die Jungfrau, die ihn dermaleinst freiküßt – wohl ahnend, daß er sie längst schon getroffen haben mag... (Martin Budde) Lesetipps:
![]() Domu - Das Selbstmordparadies
Moment mal, werden sich jetzt einige fragen, warum kommt denn gerade „Domu” in diese Liste und nicht „Akira”? Ganz einfach: weil „Domu” um Längen besser ist. Die meisten Künstler sollte man am besten genießen, wenn sie gerade „ihr Ding” gefunden haben, wenn die frische Energie nach außen dringt und voller Erzählfeuer ist - bevor der Erzähler selbst merkt, was er da eigentlich tut. „Akira” war ein Overkill, zugegeben. „Domu”, biographisch gesehen das Gesellenstück auf dem Weg zu jenem weltweit gefeierten Mindblaster, ist eine Geschichte, in der die später mit stilistischem Überdruck auf den Leser einprasselnden Effekte noch vorsichtig dosiert und experimentierfreudig daherkommen, akzentuiert eingesetzt werden und deshalb genau das gewaltige Staunen hinterlassen, das ihnen zusteht, und nicht in einer Kaskade von lähmend schnellen Schnitten auf der Strecke bleiben. „Domu” begann als Serie 1980 in einem Mangazine und wurde innerhalb kürzester Zeit zum Liebling der japanischen Studentenszene. Als die Serie nach 2 Jahren zu ihrem Ende kam, hatte sie bereits einen solchen Kultstatus, daß ihr 1983 der japanische Science Fiction Grand Prix Award verliehen wurde, ein dem „Hugo” ähnlicher Preis, der bisher nur Romanen zugedacht war. Die Idee der Handlung ist so simpel wie kernig: In einer typischen tokioter Vorstadt-Beton-Burg beginnt eine Kette von rätselhaften, scheinbaren Selbstmorden. Die Polizei läuft mit ihren Ermittlungen komplett im Kreis; zu mysteriös die Umstände, um auch nur den Hauch einer Spur zu finden. Nur das kleine Mädchen Etsuko, das gerade mit seiner Familie in die Nachbarschaft gezogen ist und das über gewaltige psychokinetische Gaben verfügt (ein von Steven Kings „Feuerkind” geliehenes Motiv, daß Otomo später auch bei „Akira” als tragendes Element einsetzte), kommt dem Geheimnis auf die Schliche: der senile Greis Uchida steckt hinter den Todesfällen, auch er besitzt jenes Ausnahmetalent, mit bloßen Gedanken Materie zum zerbersten bringen zu können, und in debiler Verspieltheit bringt der die Einwohner des Hochhauses um, weil er Spaß daran findet, kleine Trophäen von ihnen zu sammeln. So beginnt zwischen den beiden insgeheim, ohne daß der Rest der Welt wirklich versteht was passiert, ein in Etappen stattfindender telekinetischer Kampf auf Leben und Tod, der in einem verblüffenden Showdown endet. Es ist bei weitem nicht nur der mit Detailtreue erschlagende und doch schwungvolle Strich von Otomo, dieser Mangastil mit unverkennbar westlicher Färbung, der „Domu” zu einem echten Erlebnis macht; hier spielt der Meister zwar nicht zum ersten Mal, aber doch so beeindruckend wie nie zuvor mit cineastischer Erzähltechnik, mit Schwenks, krassen Schnitten, blutdruckpeitschenden Kombinationen von aufregenden Kamerapositionen. Auch wenn dieser Comic von 1980 ist, hat er bereits die filmtechnische Reife eines verdammt guten 90er Musikvideos. Alles, was später „Akira” so erfolgreich machte, ist schon da, aber hier nicht in einer Cyberwelt von morgen stattfindend, sondern direkt um die Ecke, im stinknormalen Alltag, und deshalb geht einem erst recht der Hut hoch. Gerüchte kursieren, daß Disney zur Zeit an einer Realverfilmung sitzt. Es kann einfach nicht so gut werden wie das Original. (Thomas Strauß) Lesetipps:
![]() Herrn Hases haarsträubende Abenteuer
Wenn man Schuhgröße 88 trägt, tappt man offenbar leichter in irgendwelche Fettnäpfchen. Die haben es in sich: da kriegt der großfüßige Held es schon mal mit dem uralten Fluch der Tschnÿptz-Dynastie zu tun, oder er wird plötzlich zum Direktor einer überaus zwielichtigen Firma ernannt, oder die Bewohner einer abgelegenen Siedlung wollen ihn völlig grundlos kalt machen. Letztlich bleibt Herr Hase aber keine Antwort schuldig, denn obwohl er äußerst friedliebend, mitfühlend, gerecht, ehrlich und mutig ist, aufs Maul gefallen ist er deshalb noch lange nicht. Seine Gegenwehr gegen die Schwierigkeiten der Welt besteht denn auch meist in Reden: die sind oft banal und alltäglich, aber immer fein gewürzt mit französischem Esprit und manchmal mit abgründigen Absurditäten. Diese Reden im Verhältnis zu den schrägen Ereignissen machen den Witz und den Charme der Hase-Bände aus. Allerdings wird man den Verdacht nicht los, dass Hase letztlich ein Schauspieler ist, der seine Abenteuer mit treuen Freunden, dem Kater Richard, dem Hund Titi, der Ratte Pol, der Mäusin Nadia, nachspielt. Denn in jeder Geschichte wechseln sie in ein anderes Genre: so ist „Blacktown“ ein Western, „Slaloms“ eine Skinovelle, der Krimi „Walter“ spielt Ende des 19. Jahrhunderts, „Verflucht“ im modernen Paris. Und wie so mancher gute Regisseur sich selbst eine kleine Nebenrolle in sein Skript geschrieben hat, taucht auch Lewis Trondheim gern am Rande in seinen Hase-Geschichten auf. Will man dem in jedem Carlsen-Band abgedruckten Porträt Glauben schenken, sieht er einem schlecht gelaunten Vogel ähnlich, und als solcher steht er schon mal auf der Vernissage eines Freundes von Herrn Hase herum. Lewis Trondheim, mit bürgerlichem Namen Laurent Chabosy, begann seinen Herrn Hase als 500-seitiges Monsterwerk (Lapinot et les carottes de Patagonie, bislang nur auf französisch bei L´Association), das er nur zur Übung anfertigte, um Zeichnen und Erzählen zu lernen. Das konnte er damals schon verdammt gut und inzwischen noch viel besser, auch wenn er sich heute meist auf gewöhnliche 48-Seiten-Geschichten beschränkt. In manchen Zügen erinnern seine Zeichnungen vielleicht an Vorbilder wie Hergé und Franquin, bleiben aber immer unverwechselbar Trondheim, gerade in den witzigen Details wie den ungleich großen Augen – das eine ein Punkt, das andere kugelrund -, wenn mal wieder etwas grandios schiefgegangen ist. Eins ist jedenfalls überhaupt nicht schiefgegangen. Herr Hase hat so etwas wie Kultstatus erlangt, und man darf ihn wohl getrost zu den modernen Klassikern im Funnies-Bereich rechnen. (Gerlinde Althoff) Lesetipps: Linktipps:
![]() Sgt. Rock
Schaut man sich die vorherrschende Schussrichtung in der allgemeinen Rezeption von Filmen, Romanen, Bildern, Comics etc an, in denen Krieg eine zentrale Rolle spielt, liegt der Schluss nahe, dass hier einem unhintergehbaren Dogmatismus die Fahne gehalten wird. Denn immer dann, wenn in Kunstwerken die Maschinengewehre ballern, die Verräter baumeln und diverse Strände, Hügel und Städte genommen werden, meinen plötzlich alle über Sinn und Unsinn von Kriegs- bzw. Antikriegskunst mitreden zu können. Menschen, die sich Minuten vorher noch die größte Scheiße unkommentiert reingezogen haben, debattieren mir nichts, dir nichts darüber, ob Milton Caniff, Fancisco Goya, Louis-Ferdinand Celine, Harvey Kurtzman, Akira Kurosawa, Ernst Jünger und Joe Kubert nun in Wirklichkeit verkappte Faschisten und talentierte Nixblicker sind oder ob sie "die Schrecken des Krieges angemessen herausstellen". Hauptsache der Autor meint, Krieg ist blöd, dann ist alles prima und wir können wieder zu Bett gehen. Wissenschaftliche Versuche mit herkömmlichen Hermeneutik-Techniken haben jedoch ergeben, dass man Bob Kanighers (Text) und Joe Kuberts (Zeichnungen) steinhartem GI und seiner Truppe Easy Co. so nicht beikommen kann. Trotz Männlichkeitswahn, Heldenkacke, Unrealismus, Klischee-Flut und ähnlichem Kram, der einer Ideologiekritik nicht mal für ein halbes Panel lang standhalten würde, handelt es sich bei Kanighers liedartig strukturierten Sgt.-Rock-Geschichten (Strophe, Refrain, Strophe, Bridge, Refrain, Solo usw.), die von Kubert - den ich, zumindest was die sechziger Jahre angeht, für einen der ganz Großen des Mediums halte - ohne Reibungsverlust umgesetzt werden, um Werke, vor denen jeder Comicfan, der was auf sich hält, in Andacht niederzuknien hat. For those about to rock, we salut you! Interessierten empfehle ich, sich die hervorragende Anthologie-Reihe "Sgt. Rock Special" (zwischen 1988-91 erschienen) zu besorgen, die neben allerhand Kubert/Kanigher (u.a. "Enemy Ace") auch noch einige schönen Arbeiten vom ewig unterschätzten Russ Heath enthält. (Marc Sagemüller) Lesetipps:
![]() Short-Stories
Angefangen hatte David Mazzucchelli 1984 als Superheldenzeichner bei Marvel: zunächst arbeitete er an „Daredevil“, später an „Batman“ („Das erste Jahr“). Dann verschwand er eine Weile in der Versenkung – um nachzudenken, wie gemunkelt wurde, und das, was dann folgte, bestätigte dieses Gerücht. Im Verlauf der Arbeiten im Superhelden-Genre hatte er allmählich einen eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelt, und diesen findet man erstmals unverfälscht in den Kurzgeschichten, die er ab 1991 in seinem Magazin „Rubber Blanket“ veröffentlichte. Drei dieser Erzählungen hat die Edition Moderne auf deutsch in dem Band „Discovering America“ vorgelegt. Alle sind zweifarbig ausgeführt – z.B. schwarz-gelb oder rot-blau -, und entwickeln ihre fast magische Wirkung durch die expressive Grafik. Zu Recht verlässt sich Mazzucchelli ganz auf die Bilder. Geradlinig und beinahe wortkarg erzählen sie von Menschen, in deren Alltag das Fremde, Unerwartete einbricht; in „Big Man“ ist es z.B. ein ganz unheldischer Riese mit Superkräften. In dieser Geschichte setzt sich Mazzucchellis auf ganz andere Weise mit dem Superhelden-Genre auseinander, immer wieder auch mit der Kommunikation ganz ungleicher Charaktere, und er erschafft dabei Parabeln auf grundlegende menschliche Befindlichkeiten. Leider versammelt „Discovering America“ nur drei Geschichten, und die zeigen einen nachdenklichen und tiefsinnigen Autoren – der aber auch andere Seiten hat. So beweist die herrliche Geschichte „The Death of Monsieur Absurde“ (schwarz und hellgrün), dass Mazzucchelli auch Humor mit Hintersinn zu verbinden weiß. Eine weitere Seite dieses außergewöhnlichen Zeichners findet man in „Stadt aus Glas“. Mazzucchelli adaptierte die gleichnamige Erzählung des Schriftstellers Paul Auster, in der es um die Unzuverlässigkeit der Sprache geht und viel von berühmten literarischen Vorlagen (z.B. Miltons „Paradise Lost“) die Rede ist. Statt literarischer Zitate setzt Mazzucchelli nun visuelle Zitate ein: Stadtpläne, Hinweisschilder, filmische Kamerafahrten, Dürers Narrenschiff-Illustrationen und noch so einiges mehr werden virtuos durch reines Schwarz-weiß verknüpft. Da verwandeln sich Fingerabdrücke in Labyrinthe und Kackehäufchen reden, und unter der vertrauten Oberfläche der Dinge verbergen sich mythische Welten. Und die Rechnung geht auf: wie die Erzählung macht der Comic auf die Brüchigkeit der Sprache aufmerksam – nur eben mit anderen Mitteln, und an vielen Stellen macht er darüber hinaus sichtbar, wie es dazu kommt. David Mazzucchelli ist jedenfalls einer, von dem man noch einiges erwarten darf. (Gerlinde Althoff) Lesetipps:
![]() Pogo
„Wenn Walt Kelly gut war, dann war er stets der Beste, den es gibt“, befand das Comics Journal über den Schöpfer von Pogo und eigentlich wäre dem nichts hinzuzufügen, wenn Pogo in Deutschland nicht so gut wie unbekannt wäre. Lediglich eine Handvoll Strips fanden ihren Weg in Carlsens Comics - Weltbekannte Zeichenserien-Anthologie und ein Sammelband erschien 1974. Kein Wunder, gelten doch Kellys semantische und phonetische Spielereien als nahezu unübersetzbar. Ab 1949 erschienen Kellys Geschichten über den Okefenokee-Sumpf und als Pogo 1974 eingestellt wurde, war das Genre Comic Strip ein anderes, Kelly verwandelte ihn in große Kunst. War Pogo zunächst noch ein funny animal-Strip, der eben nur etwas besser geschrieben war (Kelly legte schon früh Wert darauf, zu zeigen das Kommunikation nur ein Irrtum ist), so bezog er spätestens ab 1953 Stellung gegen die Hexenjagd des berühmt-berüchtigten Senators Joseph McCarthy. Auch später behielt Kelly diese kritische Haltung gegenüber der amerikanischen Politik: J. Edgar Hoover, Spiro Agnew und Richard Nixon wurden die bevorzugten Zielscheiben seiner Satire. Aber auch kommunistische Diktatoren waren nicht vor der Lächerlichmachung durch Pogo und seine Freunde gefeit: So traten Crustschow als Schwein auf und Fidel Castro als Ziegenbock auf. Bemerkenswert, daß lediglich die Titelfigur, das Opossum Pogo, zeit seines Lebens etwas bläßlich blieb, die restlichen 150 Haupt- und Nebenfiguren, allen voran Albert der zigarrerauchende Alligator, sind genau ausgetüftelte Charaktere, deren unterschiedliches Naturell sich sogar in der Form der Sprechblasen und dem Lettering niederschlägt. (Lutz Göllner) Lesetipps:
![]() Okami (Lone Wolf and Cub)
Itto Ogami, der Scharfrichter des Shogun, wird Opfer einer bösen Intrige. Die Häscher eines verfeindeten Clans überfallen sein Haus und töten seine Familie – nur seinen kleinen Sohn kann er retten. Als er dann auch noch eines Attentats auf seinen Herrn beschuldigt wird, bleibt eigentlich nur noch der rituelle Selbstmord, doch die Liebe zu seinem Sohn ist stärker als sein Ehrenkodex, und so wird Ogami zum „Okami“, zum einsamen Wolf, der von nun an dazu verdammt ist, mit seinem Kind heimatlos durch die Welt zu irren und sein Leben als gedungener Mörder zu bestreiten. Schon 1970 erschien der „Okami“-Zyklus in Japan und wurde sehr schnell sehr erfolgreich – der Westen allerdings mußte sich gedulden, bis 1987 der seinerzeit amtierende Comic-Übergott Frank Miller gestand, welcher Comic ihn wie kein anderer zu seiner neuen, gefeierten, dynamischen Linie inspiriert hatte. Mit von Miller neu gezeichneten Covern und einführenden Worten erblickte „Okami“ unter dem Namen „Lone Wolf and Cub“ das Licht des amerikanischen Markts und half, die westliche Welt aus ihrem Manga-Dornröschenschlaf zu erwecken. Selbst heutzutage sieht der 7000 Seiten starke Samurai-Epos von Kazuo Koike und Goseki Kojima immer noch reichlich modern aus. Natürlich, ein Ronin, der im Japan der Edo-Zeit einen Kinderwagen durch die Lande schiebt, das gibt es in diesem Genre nicht allzu häufig zu sehen. Ebenfalls ganz gehörig aus dem üblichem Rahmen fallend ist der üppige Aufwand um Authenzität, mit der Koike und Kojima die Kultur des fernöstlichen Mittelalters vor unseren Augen wiederauferstehen lassen – egal, ob Deko oder Bekleidung, ob Philosophie der Zeit oder alltägliche Sitten und Gebräuche; die Kulisse ist hier alles andere als schmückendes Beiwerk, sondern dermaßen grundsolide durchrecherchiert, daß jedem Geschichtsforscher die Tränen der Rührung in die Augen steigen (Nicht-Japanologen können die Details in der deutschen Ausgabe anhand historischer Nachbemerkungen vertiefen). Doch vor allen Dingen: was „Okami“ neben dieser opulenten Historien-Inszenierung nach all den Jahren immer noch so gut funktionieren läßt, ist das Gespür seiner Autoren für filmischen Erzählrhythmus. In majestätischer Bedächtigkeit wird der Leser in die Szenen eingeführt; langsam und episch schwelt das Unheil heran, um sich schließlich in ausgiebigen, wuchtigen Actionszenen zu entladen. Wenn dann in Zeitlupe die durch die Gegend wirbelnden Angreifer durch Okamis flirrendes Schwert erlegt werden, fühlt man sich wirklich wie im Kino. Apropos: natürlich verkauft sich ein Manga nicht über 250 Millionen mal, ohne verfilmt zu werden. Schon 1972 machte Kenji Misumi aus der Saga des einsamen Wolfs eine sechsteilige Filmreihe. Für alle, die nach 8 Bänden bei Carlsen erst so richtig auf den Geschmack gekommen sind, gibt‘s „Das Schwert der Rache“ und „Am Totenfluß“ bei One World Entertainment auf DVD. (Thomas Strauß) Lesetipps:
![]() Frank
Als Michel Foucault Mitte der sechziger Jahre seine legendäre Archäologie der Humanwissenschaften "Die Ordnung der Dinge" veröffentlichte, konnte er noch nicht wissen, dass folgender aus diesem Werk stammende Satz sich einmal vollkommen richtig auf Jim Woodrings ab 1992 erscheinenden Strip Frank beziehen würde: „Sprache und Malerei verhalten sich zueinander irreduzibel: vergeblich spricht man das aus, was man sieht: das, was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern, Vergleiche das, was man zu sagen im Begriff ist.“ Woodrings Frank ist ein Wunderwerk an Ungreifbarkeit, ohne unzugänglich zu sein. Was die biberzahnige, keiner bestimmten Spezies ausser derjenigen der antropomorphen Cartoon-Tiere zugehörige Hauptfigur an einem Ort, wo Dekoration und Natur in welligen Linien und organischen Formen zu einer Art Landschaft zusammenlaufen, so treibt, ist schwer zu sagen. Für die (fast gänzlich stummen) Handlungen, Wesen und Dinge fallen einem keine Namen ein.Der Tiefgang ist bodenlos, liegt aber nicht „unter“, „hinter“ oder „zwischen“ Woodrings wunderschönen, wie aus dem Nichts kommenden, weder abstrakten noch figurativen, naiven noch durchtriebenen Zeichnungen, sondern völlig klar, doch unerklärbar vor einem. Sicher ist nur: stellenweise ist Frank - bei aller Niedlichkeit - so gruselig, dass einem die Nase abfällt. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
![]() Feuer
Auf den ersten Blick könnte man es als das abhaken, wofür entsprechende Apologeten gerne die bundesverdienstkreuzgleiche Umschreibung „graphische Literatur“ hervorpopeln: sich aufdringlich galerienträchtig gerierendes Gepinsel, das vornehmlich sein Artsyfartsytum abfeiert. Über einen solchen Mißbrauch ist Mattottis Feuer von 1988 jedoch weit erhaben. Zwar liegt sein Stil nahe an Maltechniken, die unter diversen -ismen der Kunstgeschichte eingeschrieben sind (was ihn eben zum beliebten Vorzeige-Kunscht-Comic qualifiziert); doch wird hier nicht der angegammelte Heuristik-Zombie „Bildsprache“ formuliert, sondern stattdessen, ganz comic-kompatibel, mit Bildern erzählt. In der Geschichte des von den Gestalten, Feuern und Farben der geheimnisvollen Insel Sankt Agatha in Bann gezogenen Leutnant Absinth, die konsequent mit totaler Auflösung endet (Regression der Hauptfigur und Vernichtung des Aufklärungskreuzers als Farb- und Formexplosionen), verunmöglicht die perfekt ausbalancierte Einheit von „Inhalt“, „Bedeutung“ und Gestaltung die Reduktion auf den Gemäldeaspekt; Mattotti schafft eine unaufgesetzt-ausgeglichene Unwirklichkeit, in der man ihm auch Farben als Handlungsträger abnimmt. Ein visuell derart erschlagendes Experiment ist, wie an Mattottis sonstigen Arbeiten abzulesen ist, zur Einmaligkeit verurteilt. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
Platz 39 It´s a Good Life, If You Don´t Weaken
Nachdem ich stundenlang in meinem Comicschrank forschungsmäßig unterwegs gewesen war, sah ich dann doch meine Vermutung bestätigt, dass es sich bei Seths (Kanadier und guter Kumpel von Chester "The Playboy" Brown und Joe "The Poor Bastard" Matt) "It´s a Good Life, If You Don´t Weaken" um den am meisten zuende gedachten (da kommt selbst Lewis Trondheim nicht mit) Comic über Alltäglichkeit bzw. das Leben an sich handelt. Zwar gibt es auch soetwas wie eine Story - Seth, der selber die Hauptrolle übernimmt, macht sich auf die Suche nach einem verschollenen Zeichner/Karikaturisten namens Kalo, von dem er in alten Ausgaben des "New Yorker" einige wenige Bildchen entdeckt hat - doch wird hier das Prinzip, welches das Gros aller narrativen Kunst beherrscht, eine Geschichte mit Hilfe von Figuren erzählen zu lassen, einfach umgedreht. Er benutzt die Handlung lediglich um sein Dasein unsymbolisch, unwitzig, straight arrangiert und mit einem absolut grandiosen, die Zeit einfrierenden, Zeichenstil auf 160 Seiten zusammenzufassen. Dabei ist es so piepenhange wie nur irgendwas, ob es diesen Kalo nun wirklich gegeben und ob Seths haarsträubendes Indiana-Jones-Abenteuer autobiografisch, semiautobiografisch oder 1000%ig ausgedacht ist (ich erwähne das nur deshalb, weil im Zusammenhang mit "It´s A Good Life" immer und immer wieder darauf abgehoben wird (wahrscheinlich weil den Knilchen und Knilchinnen ansonsten nix besseres dazu einfällt)). Wer jetzt glaubt, dass das alles totaler Humbug ist, wie ihn nur eine Eierbirne ausbrühten kann, die schon zuviele Comics in ihrem Leben gelesen hat, der werfe doch mal einen Blick in "Clyde Fans", dem ersten Teil des Nachfolgers von "It´s A Good Life", wo ein Opa ca. 70 Seiten lang monologisierend durch seine olle Bude stiefelt... Bleiben am Schluss nur noch ein paar heiße Scheiben, die man in voll bekackter Hippietradition als Lese-Soundtrack empfehlen kann: Jimmy Giuffre: "1961", Frank Sinatra: "In The Wee Small Hours", Bill Evans: "Sunday At The Village Vanguard". Und ab dafür! (Marc Sagemüller) Lesetipps:
![]() Kabuki
In den 90ern ist in den US-Comics ziemlich wenig aufregendes passiert. Den Aufbruch, den Miller, Sienkiewicz und Chaykin angedeutet hatten, war längst abgeblasen worden. Im Mainstream und an dessen Rändern herrschte lautstarke Langeweile a la McFarlane, Lee & Co. Einer der wenigen, der dennoch versuchte neue Wege zu gehen, war David Mack. "Kabuki" ist zunächst einmal eine SF/Samurai-Story, die Geschichte einer Rache. Nicht wirklich originell. Aber wie Mack diese Geschichte erzählte, war aufregend frisch und oft geradezu waghalsig. "Circle of Blood", eine in sechs Teilen veröffentlichte s/w-Graphic Novel, die den Kern der Story bildet, erschlägt in ihrer erzählerischen Wucht. Auch wenn Mack spürbar mit anatomischen Fertigkeiten kämpft, sein Sinn für Seiten-Design, Tempo, Kontemplation, sein Gespür für die innere Dramatik der Geschichte macht jeden Fehler im Detail wett. "Kabuki" ist eine verrückte, bestechende Mischung: eine pathetische stream-of-consciousness- Action-Tekno-Zen-Ballade, das Teil, das William Gibson immer schreiben wollte, aber nie konnte. Nach "Circle of Blood" verzettelte sich Mack. Kabuki ließ ihn nicht los oder er konnte nicht los lassen. Die Geschichte war erzählt, was folgte war halbgares, lyrisches Geraune, das in kitschig collagierte Gemälde eingebettet wurde – Poster-Artwork für Kung Fu-Schulen und Teeläden. Das macht ihn zwar zum einzigen Künstler, der auf den Spuren von Sienkiewicz’ "Stray Toasters" wandelt, aber von dessen wohlkalkuliertem Wahnsinn ist Mack Lichtjahre entfernt. (Bernd Kronsbein) Lesetipps:
![]() Green Lantern/Green Arrow
Mit Neal Adams ist das so eine Sache: Welches seiner Projekte verdient die Aufnahme in diese Liste? Ist es sein Batman, der den realistischen New Look des Dunklen Detektivs etablierte? Sind es seine X-Men, bei denen Adams mit Layouts experimentierte, bis Stan Lee selber die Notbremse zog und ganze Seiten von Marie Severin neu zeichnen ließ? Oder gar sein Superman, der sich zwar nur auf wenige Hefte, einen Haufen klassischer Titelbilder und den Sonderband „Superman vs. Muhamed Ali“ beschränkte, das Erscheinungsbild des Stählernen in den siebziger Jahren aber nachhaltig veränderte? Nein, Adams größte Leistung bestand ohne Zweifel in seinem Green Lantern-Run, der von April 1970 bis Mai 1972 (mit vier Nachklappern im Flash) lief. Der ehemalige Journalist Denny O’Neil, gerade frisch zu DC gestoßen, schrieb dem jungen Mann Szenarien, die vollkommen mit den alten Superhelden-Stories brachen. Gleich im ersten Heft, der Nummer 76, muß Hal (Green Lantern) Jordan gegen einen fiesen Hausbesitzer antreten, der mit legalen Methoden seine Mieter terrorisiert. Sehr zum Mißtrauen seiner Chefs, der Wächter von Oa, denn diese schicken einen Aufpasser auf die Erde. Gemeinsam mit seinem Kumpel Green Arrow und verfolgt von dessen Freundin Black Canary macht sich die kleine Gruppe auf eine Reise durch Amerika - und entdeckt einen fremden Kontinent, beherrscht von Rassismus, Intoleranz und Lügen, ökologisch verwüstet, mental zerstört, die Aufbruchstimmung der Kennedy-Ära ist dem Vietnam-Kater gewichen. Die Reise endet in einem seitenlangen Kampf zwischen der „konservativen“ Laterne und dem „progressiven“ Pfeil, der mit einem Text aus Norman Mailers brillanten Reportageroman „Heere aus der Nacht“ unterlegt ist, nur um sich in den nächsten Heften den Themen Überbevölkerung, Drogensucht und Sekten zuzuwenden. Unterstützt von den Young Guns Mike Kaluta und Bernie Wrightson legen O’Neil/Adams bis zur Nummer 89 (einzig Heft 88 war nicht von ihnen) eine Serie hin, die geprägt ist vom Zeitgeist dieser Jahre und gaben den Superhelden-Comics damit erstmals soziale Relevanz. Die bittere Pointe freilich sollte man nicht verschweigen: Adams und O’Neil betreuten mit Green Lantern eine siechende Serie und durften deshalb experimentieren. Allein: Es half alles nichts, nach der Nummer 89 wurde das Heft wegen mangelnder Verkaufszahlen und trotz hervorragender Kritiken eingestellt. (Lutz Göllner) Lesetipps:
![]() Alack Sinner
„Was für eine Stadt! Wer hier lebt, darf sich über nichts wundern. Die Dinge geschehen einfach...“ Diese Stadt heißt New York, und einer, der hier lebt, ist Alack Sinner, Ex-Polizist und Privatdetektiv. Sich Wundern paßt nicht zu seinem Beruf - sein Job ist es, Antworten zu finden, bisweilen auch auf Fragen, die man ihm gar nicht gestellt hat, kurz: Fälle zu lösen. Das hilft ihm, finanziell über die Runden zu kommen, und mehr als einmal rettet es ihm auch selber den Hals. Aber es liefert ihm keine Erklärungen in seinem wichtigsten Fall: seinem eigenen. Er ist sich seiner Gefühle selten bewußt - seine Ängste verdrängt er, bis sie als abgründige Traurigkeit wiederkehren, die er nur zu oft in Alkohol ertränkt. Dabei fressen ihn Egoismus, Skrupellosigkeit, Brutalität um ihn herum innerlich auf, und er sehnt sich nach echter Freundschaft. Aber zugleich auch nach seiner Einsamkeit. Dieser Mann ist zwar ein verdammt guter Privatdetektiv, weil er etwas herausfinden will (vielleicht sogar muß). Doch er sagt von sich selbst, daß er die Welt nicht aus den Augen eines Spürhundes sieht, sondern „mit dem Blick eines Sünders“. Deshalb ist er keiner von all den zynischen Schnüfflern, die andauernd coole Sprüche absondern, etwa über ihr Jagdrevier und ihre Opfer. Er weiß einfach auch, daß es ihn in dieser Stadt an jeder Ecke erwischen kann, jederzeit, aus nichtigstem Anlaß. Da bleibt kein Platz für Eitelkeit.... „Verdammte, düstere Stadt!“ Im flächigen Schwarzweiß des Exil-Argentiniers José Muñoz (der sein Handwerk bei Alberto Breccia und Hugo Pratt erlernte) wird es sowieso nie richtig Tag. Und dazu sind die Bildausschnitte oft derart gedrängt, die Perspektiven gewagt, daß sich immer wieder Gefühle klaustrophobischer Enge, einer latenten Bedrohung einstellen. Die Bilder werden zudem in dem Maße düsterer, in dem auch die Erzählungen von Muñoz‘ Landsmann Carlos Sampayo immer auswegloser erscheinen. Sie dokumentieren nicht nur Sinners allmählichen Abstieg, seine zunehmende innere Verzweiflung. Sie belegen dazu den Niedergang einer wie auch immer gearteten Hoffnung auf revolutionäre Befreiung im Laufe der 70er Jahre, die mit Black-Panther-Militanz z. B. begannen und im reaktionären Backlash der Reagonomics endeten. Selbst die Graphik dokumentiert diesen Wandel: vom präzisen Strich zu Beginn (1975) mit sozialkritischem Interesse binnen weniger Jahre zur drastischen Karikatur, die ein groteskes Panoptikum dekadenter US-Massenkultur entwirft. Ohnmächtige Wut spricht aus diesen späteren Folgen. Alack Sinner aber sagt weiterhin: „Je brutaler die Stadt sich zeigt, um so mehr gefällt sie mir. Ein widersprüchliches Gefühl, aber nur so wird sie für mich lebendig, kann ich ihre Gesetze achten und auf Antworten hoffen, die sie für mich bereithält.“ Er wird weiter suchen, weiter leiden. Und den Widerspruch vermutlich nicht lösen... (Martin Budde) Lesetipps:
![]() Blueberry
Ganz entgegen seines Rebellen-Images ist Blueberry ein ziemlicher Anpasser: 1965, der Western á la John Ford war gerade im Untergang, debütierte er in Fort Navajo ganz klassisch als leicht gebrochener, aber durchweg positiver Held; Anfang der siebziger Jahre, auf dem Höhepunkt der Italo Western-Welle, kämpfte sich auch Blueberry zäh durch eine dreckige und fiese Welt, die ihm schließlich alles nahm, Rang, Namen und vermeintlich sogar das Leben; und seine Rückkehr in den Achtizern wurde im Kino begleitet von einer kleinen, aber feinen Renaissance des Westernfilms. Doch was Blueberry zu so einer bemerkenswerten Serie (dem besten Western in diesem Medium) macht ist, daß er bei aller Anpassung an den Zeitgeist immer eine zutiefst eigene Schöpfung des Texters Jean-Michel Charlier und seines Zeichers Jean Giraud geblieben ist. Das macht Blueberry zu einer Ausnahme in der Karriere des Vielschreibers Charlier und nicht umsonst ist dies die einzige Konstante in der nun schon 40 Jahre dauernden - und an Tiefpunkten nicht gerade armen - Karriere Girauds, die einzige Serie, zu der er immer wieder zurückkehrt. Es scheint, als hätte sich hier eine Figur ihre Biografen selber ausgesucht. Selbst die Versuche anderer, weniger begabter, Autoren und Zeichner konnte dem Nimbus der Serie nichts anhaben. Fraglich ist nur, ob Giraud, der nun auch schon im Rentenalter ist, seinen Plan wahrmachen kann, das Leben des Mike Steve Blueberry von seiner Geburt 1843 bis zu seinem Tod im Jahr 1933 (die Parallelen zu Pratts Corto drängen sich auf) zu erzählen. (Lutz Göllner) Lesetipps:
![]() Short Stories
Dem Horror-Genre haftet in besonderem Maße das an, was Stephen King den „Laß-mich-dein-gekautes-Essen-sehen“-Faktor nennt: kindliche Schau-und Zeigensfreude dessen, was verrottet, sobald Licht darauf fällt; Spielereien mit Oberfläche und Material zuungunsten künstlerischer Ökonomie; Schrecken plus Spaß minus Scham. Obwohl all das so einfach klingt, gibt es im Bereich expliziten, phantastischen Horrors nur wenig wirklich überzeugende Werke. Im Medium Comic steht, historisch und stilistisch der EC-Terrorkanone Graham „Ghastly“ Ingels nachfolgend, an einsamer Spitze Berni(e) Wrightson. Sein Horror ist vollsaftig, körperlich und von hemmungslos ausformulierter, barocker Üppigkeit. Alles wird gezeigt, ist eklig, finster und lustig, aber immer geschmackvoll, trotz oder gerade wegen der Einzelbilder abfeiernden Brechstangen-Atmosphäre, der überverzerrten Gummi-Gliedmaßen und des liebevoll manieristisch umkauerten, immergleichen Monstren-und Plotarsenals. Höhepunkt im Oeuvre, zumindest unter comic-orientierten Gesichtspunkten, sind die Stories, die Wrightson, nach seinem Swamp Thing-Durchbruch bei DC, zwischen 1974 und 1976 - z.T. in Kooperation mit anderen Autoren - für Jim Warrens s/w-Horrormagazin Creepy schuf: nach dem Debüt The Black Cat folgten neben weiteren Poe- und Lovecraft-Adaptionen solche Kracher wie The Muck Monster, Bernis Frankenstein-Propädeutik, die Loch-Ness-Variation The Pepper Lake Monster, kleine mit EC-Pointen versehene Fiesheiten wie The Laughing Man oder Nightfall und, als Höhepunkt und ultimative femme fatale-Exploitation, Jenifer. Eine Schande, daß z.Zt. keine s/w-Auswahl dieser Eyeslasher greifbar ist. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
![]() Fantastic Four
Das Werk von Jack Kirby kann mit einem einzigen Wort charakterisiert werden: Energie! Ungebändigte visuelle wie erzählerische Energie, gepaart mit einer Fantasie, die im Laufe von über 50 Jahren wahre Herscharen von Helden geboren hat: Von Captain America über den Hulk, die X-Men bis zum Silver Surfer. Kirby wurde zum Epizentrum des gesamten amerikanischen Comicmarktes. Den Höhepunkt bilden unbestritten die Hefte der Fantastic Four, die er gemeinsam mit Texter Stan Lee in den 60er Jahren schuf. In ihnen entwickelte er seine graphische Erzähltechnik zur Perfektion und brillierte mit dem, was bald zu seinem Markenzeichen wurde: Überlebensgroße, gottgleiche Figuren, die Kämpfe von galaktishen Ausmaßen ausfechten. In den Fantastic Four findet Kirby den idealen Partner, der auf der einen Seite grandios-kosmische Texte auf den Leib dichtet, auf der anderen Seite aber auch immer darauf achtet, dass die Helden fest im normalen Leben und seinen trivialen Alltäglichkeiten verankern bleiben. Kirby´s Zeichnungen strotzen vor Kraft und Dynamik. Wie kein zweiter beherrscht er die visuelle Sprache des Mediums Comic. Korrekte Anatomie oder Perspektive ordnen sich dem einen Ziel unter, eine Geschichte zu erzählen, und dies so eindringlich und überzeugen wie nur irgend möglich. Hierfür erfand er die ganzseitige splash-Panels, arbeitete mit Collagen und entwickelte eine von starken schwarz-weiß-Kontrasten dominierte Darstellungsweise. Neben der Saga um die Fourth World, die unmittelbar im Anschluss entstand, zählen Jack Kirbys und Stan Lees Fantastic Four zum besten, was der amerikanische Mainstream-Comicmarkt hervorgebracht hat. Alles danach ist nur eine Fußnote zu Kirby. (Cord Wiljes) Lesetipps:
Platz 46 Preacher
Es gibt nur einen Comic, für den Hardcore-Redneck-Chronist Joe R. Lansdale oder Clerks / Chasing Amy - Regisseur Kevin Smith Vorworte schreiben, der seinem Hype wirklich standhalten kann, dutzendfach die Momente perpetuiert, die die größten Spaghettiwestern groß machen, Dialoge bietet, wie sie Quentin Scorsese kaum hätte schreiben können, mit einem Prediger auf der Suche nach Gott, John Wayne, Engeln, dem Heiligen der Killer, einem Vampir, einer Gralssekte und übelstem Backwoodabschaum, der splattert wie Ziege und derart Kette gibt, dass...was soll man sagen? Der Preacher macht seine Gemeinde sprachlos, indem er sie derart zupredigt, dass die Kirche explodiert – was in der Exposition exakt so stattfindet. Denn hier geht es nicht darum, auf Deubel komm raus „Tabus zu brechen“ (oder wie auch immer die Formeln lauten mögen, mit denen feuilletonistische Geistlosigkeit ihre engen Schubladen beklebt), sondern in erster Linie darum, der höchsten Kunst des Dialogs zu frönen. Über die Unmenge an dreiäugigen Wüstenkannibalen, französischen Pferdefressern und kackenden Wurstfetischisten, die das Bild der Serie gegen Ende hin zunehmend prägen, sollte man dabei hinwegsehen können, ebenso wie über Ennis´ gelegentliche Übungen in Infantil-Atheismus. Politische Kritik prallt am Preacher jedenfalls ab wie Kugeln vom Heiligen der Killer. Sollte man in der Home-Bibliothek zwischen James Ellroy und Oscar Wilde einordnen. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
![]() Fourth World
Eine moderne Mythologie für das 20. Jahrhundert: Jack Kirby´s Saga um die Fourth World ist ein breit angelegtes Epos, das den äonenalten Kampf des Guten gegen die Mächte der Finsternis in die Jetztzeit transferiert. Nach dem Tod der alten Götter entstanden aus den Ruinen zwei neue Welten der New Gods. Auf der einen Seite New Genesis, die Welt des Schönen und des Lichts, geführt von Highfather, dem Weisesten der Göttter. Auf der anderen Seite Apokolips, die Welt der Feuergruben und der Para-Dämonen, mit eiserner Hand beherrscht vom Tyrannen Darkseid und seinen dunklen Vasallen. Als Jack Kirby 1970 im Unfrieden von seinem langjährigen Stammverlag Marvel zum Konkurrenten DC wechselte, bot sich ihm erstmalig die Möglichkeit, seine Geschichten auch eigenständig schreiben zu können. Er übernahm zeitgleich die vier Reihen Superman´s Pal Jimmy Olsen, New Gods, Mister Miracle und Forever People, und verschmolz sie zu einer vielschichtigen und facettenreichen Gesamtgeschichte. Jack Kirbys Werke waren schon immer überlebensgroß, aber in den Fourth World Titeln, insbesondere im Flaggschiff New Gods, lieferte er sein Meisterstück ab. Eine solche Fülle an Göttern, Mysterien, fremden Welten und Abenteuern braucht den Vergleich mit der griechischen Mythologie und den nordischen Göttersagen nicht zu scheuen. Das Werk ist durchzogen von einer tiefgreifenden Symbolik, deren Interpretation ganze Doktorarbeiten füllen würde: Der böse Darkseid sucht nach der "Anti Life Equation", einer Formel für Kontrolle und Ordnung, nicht für Zerstörung. Der Todesengel der Götter ist ein schwarzer Skifahrer (!). Die Götter haben ihren eigenen Gott: Die Quelle der Weisheit, genannt "the source". Und bei aller kosmischen Grandezza gelingt es Kirby doch zugleich, die Handlung überzeugend mit dem Leben ganz normaler Menschen zu verknüpfen, die mit den Göttern in Berührung kommen und die dabei Grundlegendes über sich und die Welt erfahren. Leider fand die Fourth World nie einen Abschluss. Nach nur zwei Jahren stellte der Verlag die Titel abrupt ein, angeblich wegen zu geringer Verkaufszahlen. Der Versuch, nachträglich mit der Graphic Novel Hunger Dogs einen Abschluss zu setzen, blieb erzählerisch wie künstlerisch unbefriedigend. Es ist dies eine Tragik, die Jack Kirby´s Werk mit vielen anderen der Kunst- und Musikgeschichte verbindet. Aber auch in der jetzigen Form ist Jack Kirby´s "Unvollende" eine der herausragenden Einzelleistungen der Comicgeschichte. (Cord Wiljes) Lesetipps:
Kin-der-Kids/Wee Willie Winkie’s World
Lyonel Feininger (1871-1956) gilt heute als anerkannter Vertreter der klassischen Moderne, mit seinen ätherisch-kristallinen Werken angesiedelt zwischen Kubismus und Bauhaus ein fester Bestandteil des bildungsbürgerlichen Kalenderrepertoires. Aber wahrscheinlich weiß man dort wenig von seinen Anfängen als Karikaturist und vermutlich gar nichts von seiner (kurzen) Comic-Karriere. Dabei hätte es ohne diese den Künstler Feininger womöglich gar nicht gegeben. Feininger wurde als Sohn eines deutschstämmigen Konzertmusikerpaares in New York geboren und kam mit 16 zurück in das Land seiner Eltern, um Violine zu lernen. Statt dessen widmete er sich lieber dem Zeichnen, besuchte in Berlin die Kunstakademie und begann dort, Illustrationen in diversen Humormagazinen zu veröffentlichen. Seine Themen variierten zwischen harmlosen Witzbildern und politischen Karikaturen, deren Themen allerdings von den Redakteuren der Blätter, für die er arbeitete, vorgegeben wurden. Sein Interesse galt ohnedies mehr der künstlerischen Ausarbeitung dieser Sujets, und sein graphischer Stil orientierte sich zunehmend an Fläche und kantigen Konturen mit deutlichem Hang zur Groteske, was ihm schon in der Kritik um die Jahrhundertwende erste Beachtung einbrachte. Mit diesem Renommee und vielleicht dank des Umstands, daß er gebürtiger US-Amerikaner war, gelang ihm 1906 der Sprung zurück über den Großen Teich. Dort waren mittlerweile die Comics dabei, sich zu etablieren - argwöhnisch betrachtet aus zweierlei Gründen: zum einen witterten die „besseren Kreise“ in ihnen wegen ihres häufig derben Humors eine Gefahr für Anstand und Sitte. Zum anderen mußte gerade die gutbürgerliche Presse feststellen, daß die Boulevardzeitungen ihr eben dank dieser Comics massive Einbußen bereitete. So entschloß man sich ebenfalls zur Veröffentlichung von Comics, aber möglichst mit Niveau. Die „Chicago Tribune“ hatte dazu im April 1906 einen ganz besonderen Einfall: Man kündigte eine Sonntagsbeilage an, die nur von deutschen Zeichnern bestritten werden sollte, darunter Karl Pommerhanz, Lothar Meggendorfer und eben auch Feininger. Um es kurz zu machen: kommerziell wurde es ein drastischer Flop, was nicht zuletzt daran lag, daß keiner der Zeichner, Feininger inbegriffen, der die Entwicklung der Comics in den zehn Jahren zuvor wohl auch kaum mitbekommen haben wird, eine Vorstellung von den Erwartungen ihres US-Publikums hatte. Lyonel Feiningers Beitrag bestand immerhin aus einem echten Comic mit dem etwas seltsamen Titel „The Kin-der-Kids“. In dem guten halben Jahr, in dem die drei Kids Daniel Webster, Teddy und Piemouth in der „Tribune“ erschienen, kreuzten sie in ihrer Familienbadewanne über das Meer, landeten in England und strandeten im zaristischen Rußland, dabei verfolgt von der „guten“ Tante Jim-Jam samt Cousin Gus und einer Familienflasche Rizinusöl sowie gelegentlich geleitet bzw. gerettet von Mysterious Pete, dessen Rolle genauso mysteriös bleibt, wie es sein Name verspricht. Gründe für diese Odyssee in der Badewanne, gar ein eigentliches Thema hatten die „Kin-der-Kids“ nicht. Sie begnügten sich mit der skurrilen Basiskonstellation und zahlreichen noch groteskeren Einlagen. Die turbulente Verfolgungsjagd, die sich dabei wie von selber ergab, führte allerdings eine echte Neuerung in die Comic-Historie ein: richtige Fortsetzungsstrips hatte es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben! Nimmt man dazu noch Feiningers meisterliche Seitenaufteilung und seinen plakativen Umgang mit Flächen und Farbe, so sind die „Kids“ schon ein kleines Comic-Juwel. Sein wahres Meisterstück lieferte Feininger bei der „Tribune“ jedoch mit „Wee Willie Winkie‘s World“ ab - kein Comic, aber eine traumhafte Serie von kurzen Bildergeschichten mit Prosatexten, in denen die Metamorphosen diverser Landschaften aus der Sicht eines kleinen, phantasievollen Jungen geschildert werden. Häuser bekommen Gesichter, Bäume, Wolken werden zu phantastischen Gestalten, Naturgeistern gleich, und Gegenstände rund um den Kamin stecken plötzlich voller Leben. Ursprünglich als Nebenserie zu den „Kin-der.Kids“ erstmals am 19. August 1906 erschienen, lief Klein-Willies phantastische Welt noch nach deren abrupter Absetzung am 18. November hinaus bis Anfang 1907, dann war Feiningers amerikanisches Abenteuer endgültig beendet. Der hatte sich unterdessen von dem Honorar der „Tribune“ selbst einen Wunschtraum erfüllt und einen Studienaufenthalt in Paris leisten können, nach dessen Ablauf er zwar wieder sporadisch in Berlin als Witzzeichner tätig wurde. Aber der Grundstein zu seiner Künstlerkarriere war damit gelegt, und so hatten von seinem Comic-Intermezzo letztlich alle Seiten profitiert: die „Chicago Tribune“ erfuhr, wie man Comics besser nicht macht, sofern sie kommerziell erfolgreich sein sollen. Und die Comic-Nachwelt hat, Jahrzehnte später, einen Schatz entdeckt, mit dem sie sich zu Recht schmücken darf. Der künstlerische Rang der „Kin-der-Kids“ und von „Wee Willie Winkie‘s World“ ist heute unstrittig und topaktuell. (Martin Budde) Lesetipps:
![]() Treibjagd
Führende Parteifunktionäre des Warschauer Pakts kommen im verschneiten Polen in einem abgeschieden gelegenen Hotel zusammen, um eine gemeinsame Jagdpartie zu veranstalten. Die Biographien der Protagonisten werden vor dieser Kulisse entrollt, bis nach diversem erlegten Wild ein politisch motivierter Schuß einen Genossen trifft. Man fällt fast in einen seltsamen Zustand devoter Ehrfurcht, wenn man Pierre Christins (Szenario) und Enki Bilals (Graphik) 1983er Albumepos Treibjagd aufschlägt. Es ist der Gipfel ihrer Zusammenarbeit, das Finale der gemeinsamen, in den Siebzigern gestarteten Reihe der Heutigen Legenden und damit auch kulturhistorisches Dokument, denn über das Medium hinaus markiert Treibjagd einen Endpunkt idealistischer Programmatik als Zusammenführung linker Agitation und ästhetischer Strukturprinzipien. Es geht nicht nur um den in Fiktion gegossenen Niedergang des real existierenden Sozialismus, sondern auch um den Verlust der Möglichkeit, solche „Stoffe“ auf eine solche Art zu behandeln. Vor allem öffnet Bilals Kunst, nicht überbietbar in ihrer ungeheuer plastischen, düsteren Farbigkeit, den Überblenden, großen Symbolen, dem fast altmodischem Ernst und dem kaltem, erstarrten Pathos, einen Raum ganz in sich verschlossener, sich ihrer Brüchigkeit bewußten Atmosphäre. Sehr achtziger, sehr groß. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
![]() Sandman
Hierzulande denkt man bei „Sandman“ vielleicht an das kulleräugige Männlein, das abends im Dritten Traumsand verstreut und den Kindern harmlose Gutenachtgeschichten erzählt. Oder vielleicht noch an den grausamen Sandmann von E.T.A. Hoffmann. Neil Gaimans Sandman hat zum Glück von beiden etwas. Knapp 2000 Seiten berichten von der Gefangennahme, den Abenteuern und dem Reich des Traumwebers, knapp 10 Jahre haben Gaiman und verschiedene Zeichner daran gearbeitet. Was soll man in wenigen Zeilen über dieses ausufernde, weit verzweigte Universum sagen, das etliche Preise erhielt und zahlreiche Ableger gezeugt hat – Comicreihen wie „Luzifer“, „Mervyn Pumpkinhead“, „Death“ u.a.m.? Das Beste von allem ist vielleicht, dass Gaiman am Ende die vielen Fäden, die er über die Jahre spann, zu einem ordentlichen Strick verdreht und Morpheus, den Herrn der Geschichten, von den Furien in den Tod hetzen lässt. Marc Hempel hat die Geschichte vom Tod des Sandman (The Kindly Ones; dt. Die Gütigen) mit expressiven, luziden Bildern versehen, in denen jeder Strich sitzt. Die Schlichtheit seiner Kompositionen lässt der Erzählung den breiten Raum, den sie braucht, denn Gaiman erzählt höchst komplex und temporeich, immer mit einem postmodernen Augenzwinkern auf den Vorgang des Erzählens selbst hin, eine Tragödie, in der sich wilde Rache, wahre Liebe und mythische Gestalten aller Länder ein Stelldichein geben. Wenn man die Geschichte des Sandman verfolgt hat, ist man vielleicht von Hempels gänzlich andersartigen Bildern zunächst schockiert, trifft aber all die herrlich skurrilen Bewohner des Träumens und der Wachwelt wieder, die man schon aus früheren Episoden kannte: den qualmenden Kürbiskopf Mervyn, den Raben Matthew, Lyta Hall, die ihren Sohn Daniel mit einem Untoten zeugte, die seit Jahrtausenden lebende Hexe Thessaly, den Augen fressenden Alptraum Korinther; außerdem Elfen, die Götter Thor und Loki, Luzifer und viele andere. Und alle spielen ihren Part beim Untergang. Und irgendwann stellt man fest: Hempels Illustrationen in ihrer traumhaften Klarheit sind die einzig angemessenen, Gaiman zeigt sich von seiner besten Seite. Obwohl diese Geschichte ein Genuss in sich ist: so richtig goutieren kann man sie erst, wenn man auch die Vorgeschichte(n) kennt, die in den früher erschienenen Bänden erzählt wurde(n). Da hilft nur eins: selber lesen - und nicht vergessen: Schöne Träume! (Gerlinde Althoff)
![]() Black Hole
Angst vor dem Tod, Angst vor dem Leben. Charles Burns beschäftigt sich eigentlich immer mit demselben Thema. In "Black Hole" bringt der US-Comic-Künstler es jedoch so genau auf den Punkt wie noch nie zuvor in seiner langen Karriere. Zuvor schrieb und zeichnete er vor allem brillante Kurzgeschichten, die immer ein wenig den Geist der EC-Comics atmeten. "Black Hole" aber ist groß angelegt, so groß, dass es immer noch nicht abgeschlossen ist. Jedes Jahr kommen ein bis zwei neue Hefte hinzu. Am Ende sollen es wohl 12 werden. Aber egal. Was vorliegt, ist so gut, dass es in diese Liste gehört. Erstmals lässt sich Burns auch Zeit, die Tiefen seiner Charaktere auszuloten, gibt er seinen Lesern Gelegenheit, Protagonisten wirklich kennenzulernen. Wo bislang Abstraktion und Kälte wie ein Schutzschild die volle Wucht der Bilder und Geschichten abfederten, so verleiht die Öffnung in Richtung Emotionalität "Black Hole" eine wesentlich direktere und beunruhigendere Wirkung. Alles ist da, was man von Burns kannte: Teenager, Sex, Krankheiten, Mutationen. Diesmal hat man aber keine Chance mehr, sich zu entziehen. "Black Hole" ist eine grandiose Lektion in Paranoia. Fuck off, David Lynch! (Bernd Kronsbein) Lesetipps:
![]() Zoo
Der schönste Titel, den der dahingeschiedene Splitter-Verlag die Ehre hatte, in seinem Programm haben zu dürfen, war Franks und Bonifays ZOO. ZOO, ein Dreiteiler, dessen erster Band 1996 und dessen zweiter erst vor kurzer Zeit (in Frankreich) erschienen ist, spielt am Vorabend des ersten Weltkrieges und erzählt von einem ehemaligen Arzt, dessen Hobby sein eben errichteter Zoo ist. Er muß ihn winterfertig machen und engagiert dafür Zigeuner. Die Zigeuner ziehen nach getaner Arbeit weiter, nur eine Frau bleibt. Eine Frau ohne Nase. Die Folge eines Eifersuchtsdramas. Der Arzt hat eine junge Tochter und einen Angestellten. Die haben beide noch ihre Nasen, aber ein Verhältnis untereinander. Die Frau ohne Nase beobachtet sie. Eifersüchtig? Frank erzählt ZOO ausschließlich über die Atmosphäre. Ein Comic der Stimmungen und Andeutungen. Nichts wird an- oder gar ausgesprochen und dennoch ist der Leser verunsichert. Er verliert den Boden unter den Füßen, traut der Geschichte alles zu. Er fühlt sich verunsichert, ohnmächtig ob der unheilschwangeren Atmosphäre. Wird etwas passieren und was wird passieren? Es ist der Phantasie des Betrachters überlassen, welche Antwort er auf diese Frage findet. Er kann auch einfach darauf warten, welche Antwort Frank geben wird. Dem ist alles zuzutrauen. (Ingo Stratmann) Lesetipps:
![]() Die Gefährten der Dämmerung 3: Das Fest der Narren
Ein Album, für das einem leicht Superlative von den Lippen gehen. Irgendwie sind sich auch alle einig: Gewaltig, monumental, atemberaubend, ein Monster von einem Buch. Aber jeder setzt nach: Und worum zum Teufel geht es eigentlich? An der Oberfläche ist alles klar: Der dritte Teil einer Trilogie, die als sperrige Fantasy begann und als sperriges Historien-Spektakel endet. Eine Darstellung des Mittelalters, die man so unverklärt noch nicht gesehen hat, mit Blut, Scheiße, Pisse, Eiter, Sperma, Dreck und noch mehr Dreck. Die Geschichte spielt einige Tage um Weihnachten herum, aber dieses Fest hat nur wenig mit dem zu tun, was wir heute kennen. "Aberglaube" und "Glaube" liegt in einem Wettstreit, unter dem alles Weltliche blutig leidet. Der ganz normale Pöbel ist Freiwild für jeden, der in der Hierarchie der Gesellschaft über ihm steht. Aber er metzelt sich auch gern mal gegenseitig nieder. Gesellschaft? Zivilisation? Die Worte fallen einem irgendwie schwer. Die Atmosphäre bedrückend zu nennen ist eine starke Untertreibung. Über dem Buch lastest eine permanente Todesdrohung, die fast greifbar wirkt. Das notgeile Verhalten der Protagonisten wirkt da fast wie ein Überlebensinstinkt (wenn man nicht wüßte, dass dies eine Bourgeon’sche Obsession ist, die sich durch alle seine Werke zieht). Die Erzählstrategie ist komplex bis kompliziert, mystisches Geraune wechselt mit krassester Gosse, und auch in den Zeichnungen lauert doppelbödiges, symbolisches, ungreifbares. "Das Fest der Narren" erzählt von fernen, fremden Zeiten und vielleicht ist es gerade deshalb so ein Meisterwerk, weil es sich präziser, einfacher Deutung entzieht. Weil es einen in seiner Hermetik abstößt und nicht umschmeichelt. Weil man aber gerade wegen dieser Fremdartigkeit immer wieder zurückkehrt. (Bernd Kronsbein) Lesetipps:
![]() Sandman Mystery Theatre
Die Prohibition ist seit vier Jahren vorbei, aber Amerika hat sich verändert. Das organisierte Verbrechen ist so mächtig wie nie zuvor, Jazz erobert die Clubs, Radio-Soaps dröhnen über den Äther, Zeitungen liefern sich bewaffnete Auseinandersetzungen, die Emanzipation feiert erste Erfolge, die Weltausstellung öffnet das Tor in eine verheißungsvolle Zukunft, Rassenkonflikte schwelen, Kriegsangst überschwemmt das Land, weil ein kleiner Irrer Europa in Brand setzt... Das New York der späten 30er ist nie so beeindruckend in Szene gesetzt worden wie in "Sandman Mystery Theatre". In siebzig Heften zwischen 1993 und 99 inszenierten das Autoren-Team Matt Wagner und Steven Seagle gemeinsam mit Zeichner Guy Davis (plus Gästen wie Michael Lark, John Watkiss u.a.) das Portrait einer schillernden Ära. Sie beschrieben aber auch die komplexeste und glaubwürdigste Liebesbeziehung zwischen zwei erwachsenen und intelligenten Menschen, die die Comic-Literatur bis heute gesehen hat. Eine Beziehung, die sich im Laufe der Serie entwickelt, verändert, tiefer wird, Klippen umschifft und abzuschmieren droht. SMT war zunächst einmal "nur" ein seltsamer Spin-Off-Titel der "Sandman"-Serie von Neil Gaiman, der sowohl auf die Ursprünge des "Golden Age Sandmans" zurückgriff als auch auf die Gaiman’sche Mythologie. SMT war oberflächlich eine Hommage an die Pulps, aus denen die US-Comics hervorgegangen sind. Der Held stapft in Gas-Maske und Trenchcoat durch die Nacht, um die Bösen zu fangen, und die Heldin kann nicht still auf dem Hintern sitzen und einfach nur auf die Rückkehr ihres Liebsten warten. Wesley Dodds und Dian Belmont hätten wahrlich ein lustiges Detektiv-Pärchen sein können, eine Art Tracy/Hepburn für die Comics, aber genau das sind sie zu keinem Zeitpunkt. SMT ist ernsthaft, präzise, düster, nachdenklich. Jenseits vom moralischen Sozialkitsch, der in US-Comics in der Regel serviert wird, interessierten sich die Autoren tatsächlich für ihre Sujets und Figuren. Zu den überzeugendsten Strecken gehört zum Beispiel die, in der Dian schwanger wird. Unvorstellbar für eine US-Comic-Serie: Sie besucht trotz und wegen aller gesellschaftlicher Zwänge eine Engelmacherin, sie treibt ab und diese "Tat" liegt wie ein Schatten über dem Rest der Serie, über allen Beziehungen, die die Reihe bestimmen. SMT war bis zum Schluss die mutigste und unkommerziellste Serie, die sich ein US-Großverlag (DC Comics) je gegönnt hat. Das sie überhaupt so lange lief ist wohl nur der Begeisterung ihrer Redakteure zu verdanken, die erst den Stecker zogen, als die gesamte US-Comic-Industrie schwer absackte und damit auch die Vertigo-Line. Die Serie bricht überhastet ab, im Wunsch der Autoren, wenigstens noch ein adäquates Ende zu finden. Mit dem Eintritt Amerika in den 2. Weltkrieg endet SMT und die Wege der Protagonisten trennen sich. Zumindest für eine Weile. (Bernd Kronsbein) Lesetipps:
Platz 55 Der Mann am Fenster
Mit seinen furiosen Farbenspielen in „Feuer“ oder „Flüster“und anderen hatte Lorenzo Mattotti Ende der Achtziger die Gemeinde der Comicfans in frenetischen Jubel versetzt – überschwenglich fühlten sich einige Kritiker bereits dazu geneigt, die Geschichte der Comics von nun an in eine Zeit vor und eine Zeit nach Mattotti einteilen zu müssen – da kam der italienische Bildermagier 1992 auf einmal mit einem neuem Band an den Start, der so recht überhaupt nicht das war, auf das die Augen der Welt so gespannt gewartet hatten. Im allgemeinen Kopfkratzen und Schulterzucken wurde dieser Band mehr oder weniger ignoriert und fast vergessen, in Erwartung auf des Meisters nächstes neo-moderne Pastellkreidengewitter. Ein bitteres Unrecht, was diesem Buch geschah, denn wenn man sich dem „Mann am Fenster“ ohne Erwartungsdruck und Vorbehalte nähert, offenbart sich eines der poetischsten und atmosphärischsten Stücke Comicliteratur, die es je bislang zu sehen gab – so still und intim, wie man es Comics fast gar nicht zugetraut hätte. Das Szenario von Mattottis Ex-Frau Lilia Ambrosi schildert uns Momentaufnahmen aus dem Alltag eines allein lebenden Künstlers, der wie der Besucher einer Galerie an den Szenen seines Lebens vorbeigeht und nur in seinen Skulpturen das zelebrieren kann, zu dem er im wirklichen Leben scheinbar unfähig geworden ist; das Zusammenkommen mit etwas, Teil von etwas sein, mit etwas eine Verbindung eingehen. Er ist nicht einsam, aber allein. Wie ein Blatt im Wind läßt er sich durch seine Stadt treiben, ist ab und an bei Bekannten, aber doch nie mit ihnen vereint, niemals Fuß fassend, innerlich sich stolz in seinen Monologen ergehend und sein Einzelgängertum zelebrierend. Bis er durch einige unvorhergesehene Ereignisse dazu gezwungen wird, seine Haltung zu überdenken... Was die Leserschaft mit Sicherheit am meisten irritierte, war die komplett unerwartete Inszenierung, mit der Mattotti diese ruhig dahinfließende, bittersüße Geschichte anging. Keine expressionistischen Farben diesmal, statt dessen ein Stil, den er vorher in seinen privaten Skizzenbüchern versteckt gehalten hatte: fragile, luftige Federzeichnungen, die dem Abgebildeten fast einen Eindruck von Schwerelosigkeit verleihen. Still, dezent, zurückhaltend, karg – wie die Geschichte und ihr Held selber. Doch gerade diese Herangehensweise ist die Trumpfkarte des Bandes, denn wenn Ambrosi in ihren tagebuchartigen Fragmenten die kleinen, sonst unbemerkten und gerade deshalb so funkelnden Details des Alltags beschreibt, liegt es am Leser, das Weiß des Papiers mit seinen eigenen bekannten Sinneseindrücken zu füllen und sich von der Schönheit dieser Augenblicke überwältigen zu lassen. Ein Paradebeispiel dafür, wie viel man mit ganz wenig erreichen kann, wie durch Reduktion etwas Hochintensives entsteht. (Thomas Strauß) Lesetipps:
Platz 56 Little Nemo
Wie real sind Träume? Jede Nacht taucht der 6jährige Little Nemo ein ins Schlummerland, das Land der Träume, in dem König Morpheus herrscht. Es ist eine Welt der Wunder und Visionen, der fliegenden Drachensänften und Meerjungfrauen, der Lichterorgien und Kristallpaläste, der skurrilen Figuren und Fabelwesen. Hier erlebt Nemo die aberwitzigsten Abenteuer, nur um dann jeden Morgen (d.h. auf dem letzten Panel jeder Seite) unsanft auf den Boden der Realität zurückgerufen zu werden. Als Winsor McCay Little Nemo 1905 als Comic-Seite für die Sonntagsausgaben des Herald Tribune entwickelte, war das Medium Comic gerade einmal 10 Jahre jung. Little Nemo stellte damals einen Quantensprung in der Entwicklung der Formen- und Bildsprache der Comics dar. In verspielter Mischung aus barocker Zeichenkunst und Art Deco schuf McCay Comics, die bis zum heutigen Tag verblüffen und inspirieren. Little Nemo ist für seinen Schöpfer zugleich auch ein gutes Stück Aufarbeitung der eigenen inneren Dämonen gewesen. Das verleiht Little Nemo neben aller Zuckerbäcker-Romantik an der Oberfläche eine teilweise sogar beklemmende Authentizität. (Cord Wiljes) Lesetipps:
Leseproben:
Platz 57 You are here
Preisfrage: Was Haben "You are here", "I die at midnight" und "Why I hate Saturn" an Gemeinsamkeiten? Die Antwort: "Sie sind toll, toll und toll" ist schon ganz prima, die Antwort: "Es gibt keine deutschen Ausgaben!" ebenso bitter wie richtig. Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, daß alle drei von Kyle Baker zu verantworten sind. Kyle Baker ist (zusammen mit Alan Moore, Garth Ennis und Frank Miller) der vielleicht beste lebende Comicerzähler und in Deutschland ignoriert man ihn. Soviel zum Zustand des deutschen Comicmarktes. Baker produzierte "You are here" ohne festen Abnehmer und zeigte es dann DC. Gut, das wenigstens die Amerikaner nicht mit Blindheit geschlagen sind. "You are here" ist ein Comic wie ein Trickfilm. Mit Bildern wie auf Filmfolien. Und Computerfarben, die Farbenblinde wieder sehend machen. Traumhaft anzuschauen. "You are here" bietet Bakers Kommentar zum Tarantino-Wahnsinn. Bietet Robert Mitchum in seiner schönsten Comicrolle. Bietet den kuriosesten Frauencharakter seit Oma Duck. Bietet die schönste Sequenz ohne Sprechblasen ever. Bietet Sonnenuntergänge. Bietet skurrilen Humor und ein liebevolles und dennoch realistisches Stadtbild von New York. Bietet Charaktere, die sich entwickeln. Und ist traumhaft zu lesen. (Ingo Stratmann) Lesetipps:
![]() Cerebus
Dave Sims Lebenswerk Cerebus ist ein auf 300 Hefte angelegter Entwicklungsroman, der 1977 gestartet wurde und 2004 beendet sein wird. Zu Beginn war Cerebus eine einfache Persiflage auf Barry Windsor Smith´ Conan, in der der Aardvark Cerebus, ein kämpfendes Schwein, in einer barbarischen Welt allerlei Keilereien besteht. Schon nach wenigen Heften jedoch entwickelte sich Cerebus zur intelligenten Sozialsatire, die mit Querhieben auf Staat, Kirche, Hierarchien und Traditionen geradezu strotzt. Gekonnt gesetzte Pointen, Slapstickeinlagen und Parodien auf bekannte Persönlichkeiten sind urkomisch, nie jedoch Selbstzweck, sondern immer handlungstragende Elemente. Mit zunehmendem Fortschreiten der Serie begrenzt Sim den Fokus immer mehr auf einige wenige handelnde Figuren und deren Interaktionen. In symbolisch überzeichneten Traum- und Fantasiesequenzen wird der Zauber und Alptraum des normalen Alltags und der menschlichen Interaktion enthüllt. Wenn Sim hier teilweise selbstreferenziell bis zur Unlesbarkeit wird und seinen misogynen Marotten frönt, dann ist das konsequenter Teil seines Selbstverständnisses: Er sieht sich als Künstler nur seinem Werk verpflichtet. Sims glasklare s/w-Zeichnungen, in späteren Heften unterstützt von Gerhard, und ein außergewöhnliches Lettering machen Cerebus darüber hinaus auch zu einem optisch Erlebnis. Außerdem bietet Cerebus das wohl außergewöhnlichste Lettering, das an vielen Stellen zum integralen Bestandteil der Handlung wird. Cerebus ist ein Experiment, das schon allein ob seiner Größe Bewunderung verdient. Wenn die geplanten 6000 Seiten Cerebus komplett sein werden, dann liegt ein Gesamtkunstwerk vor, das in seiner Ambitioniertheit wie in seiner Konsequenz einzigartig ist. (Cord Wiljes) Lesetipps:
![]() Silver Surfer
Mehr Pathos war nie: Er hat sich für seinen Heimatplaneten geopfert, seiner großen Liebe entsagt, dem Weltenverschlinger Galactus als kosmischer Herold gedient, die Erde vor seinem Herrn gerettet, und wurde von diesem dafür verbannt. Der Dank der Menschen: Hass und Verfolgung. "Doch der Mensch, der die Herrschaft über diese Welt errungen hat...er kennt den Frieden nicht!! - Denn er ist ein Gefangener im Netz seiner namenlosen Ängste." Er ist der Silver Surfer: ein kämpfendes Blumenkind, ein schwerbewaffneter Pazifist, ein surfender Poet. Und er ist vor allem eins: Ultracool! Wenn er mit seinem Surfbrett unterm Arm am Hofe der unsterblichen Asen in Walhall erscheint, gegen den fliegenden Holländer, außerirdische Echsen oder den leibhaftigen Mephisto antritt - dann hat das Stil. John Buscema, auf dem Höhepunkt seines Könnens, zeichnet den Surfer mit unübertroffen ätherischer Eleganz. Selbst Moebius kann ihm mit seinem Remake 20 Jahre später nicht das Wasser reichen. Stan Lee, dessen erklärte Lieblingsfigur der Silver Surfer war, verlieh ihm messianische Züge und dichtete seinem Helden Geschichten und Verzweiflungsmonologe auf den Leib, die einen Hamlet blass aussehen lassen. Im Grunde muss man sagen: das ist Kitsch. Aber grandios, herzzerreißend und erhebend: Galaktisch guter Kitsch. (Cord Wiljes) Lesetipps:
Platz 60 Nick Fury
Er war das Gegenstück zu Neil Adams, revolutionierte er das Medium doch auf ähnlich drastische Weise. Doch wo Adams an Michelangelo geschulte Anatomie und mathematisch ausgetüftelte Perspektiven zeigte, waren Jim Sterankos Stories nur am coolen Aussehen interessiert (dies macht ihn zu einem frühen Vorfahren der Image-Boys). Und obwohl Sterankos aktive Comic-Zeichner-Zeit gerade einmal 29 Monate umfasst, wurde er zu einem Idol, einem Star und sein früher Rückzug machte ihn nur noch geheimnisvoller. Als er die Comicbühne betrat hatte der Freund von Orson Welles (beide waren im New Yorker Zaubererzirkel aktiv) bereits eine Zirkuskarriere als Entfesselungskünstler (er war das Vorbild für Mr. Miracle aus Kirbys Fourth World-Serie), Rockmusiker, Werbegrafiker und Privatdetektiv hinter sich. Zunächst nur als Assistent von Jack Kirby stieg er Ende 1966 mit Heft 151 in Nick Fury, Agent Of S.H.I.E.L.D. ein, der sich damals das Heft Strange Tales mit dem Magier Dr. Strange teilen musste. Nach wenigen Monaten übernahm Steranko die Serie komplett und machte aus dem braven James Bond-Epigonen die visuell aufregendste Serie seiner Zeit. Jede Seite sprang den Betrachter an und kreischte ihm ins Gesicht: "This is Pop", Kollagen aus Zeichnungen und Photos, psychedelische Farben, Stroboskoplichteffekte und kontrastreiche Komplementärfarbgebung waren Sterankos Mittel. Eine filmisch aufgebaute Seite, die vollkommen ohne Text auskam, machte auch dem dümmsten Leser klar, daß Nick gerade Sex hatte. Nach anderthalb Jahren war Nick Fury so populär, daß er sein eigenes Heft bekam. Doch damit begannen Sterankos Schwierigkeiten: Die Verdoppelung seines Seitenausstoßes gelang ihm nicht, schon die Nummer 4 musste von einem Gastzeichner gestaltet werden, nach Heft 5, zwei X-Men und drei Captain America-Heften stieg Steranko aus. Ohnehin war er eher an grafischen Experimenten, denn am Geschichtenerzählen interessiert und so war es nur folgerichtig, dass er Anfang der siebziger das Marvel-Fanzine Friends Of Ol´ Marvel redaktionell übernahm und gleichzeitig die auf sieben Bände angelegte Steranko History Of Comics in Angriff nahm, all dies nur eine Vorübungen für seine eigene Zeitschrift Comixscene, später Mediascene, dann Prevue. Er arbeitet an Filmen wie Outland, Jäger des verlorenen Schatzes und Coppolas Dracula mit und lieferte alle paar Jahre eine interessante Comic-Fingerübung ab. (Lutz Göllner) Lesetipps:
Leseproben:
![]() Micky Maus
Deutschland ist kein Micky Maus-Land. Es ist ein Donald Duck-Land. Die Geschmacksbildung in Sachen Comics hat hier weitgehend ein Herr Barks geleistet. Unter den Folgen leiden die Disney-Comics heute, denn die Ignoranz gegenüber anderen Disney-Zeichnern ist groß. Die Fanszene verehrt"Die Besten Geschichten mit Donald Duck" und "Die Tollsten Geschichten mit Donald Duck", huldigt der "Barks Library", ignoriert die "Micky Maus" seit dem Ende der Barks-Ära und hält die "Lustigen Taschenbücher" für beliebige Strand- oder Badewannenlektüre. Welch ein fataler Irrtum! Die "Lustigen Taschenbücher" sind hauptsächlich mit Stories aus dem italienischen "Topolino" bestückt. Die italienischen Autoren und Zeichner sind schon seit den siebziger Jahren für die schlechtesten Disneystories verantwortlich, allerdings auch, und damit sind wir endlich beim Thema, für die besten. Carpi, Cavanazzo und Scarpa sind die unbesungenen Helden der Disneycomics. Romano Scarpa, der von 1953 an für Disney arbeitende Venezianer, ist sicherlich der beste MM-Zeichner seit Gottfredson. Er bevorzugt MM, zeichnet aber nicht weniger DD. Sein Stil ist am erklärten Vorbild geschult und damit anfangs mehr retro als der anderer Zeichner. Scarpas Charaktere zeichnet eine nie dagewesene Lebendigkeit aus, eine Beweglichkeit, die es mit sich bringt, daß die Gesichtszüge der Figuren häufig entgleisen. Bei Scarpa wird viel grimassiert und noch mehr geschwitzt. Die Anspannung der Figuren ist immens. Mediziner fordern schon lange den Drogentest für Scarpas Disney-Familie. Seine Plots sind entsprechend wild und originell und in seiner großen Zeit teilt er Gottfredsons und Barks´ Faible für exotische Sujets. Leute, ignoriert Scarpa nicht, lest die "Lustigen Taschenbücher" (Ingo Stratmann) Lesetipps:
Leseproben:
![]() 300
We march. Mit keinem Wort zuviel, dafür mit um so mehr Kirby-würdiger Felsigkeit beginnt es, und nach vier berauschenden Doppelseiten mit nichts als Marschieren, monumentaler Ödnis und schlierigem Aquarellhimmel die aus Stein gehauene historische Verortung: wir befinden uns im Jahre 480 v.Chr., zusammen mit dreihundert spartanischen Kriegern, die unter ihrem König Leonidas das freie Griechenland gegen die einfallenden Perser und deren Gott-König Xerxes zu verteidigen suchen. Das Ende ist Geschichte: ein Hagel persischer Pfeile, totale Agonie, Heldentod. Keine noch so klotzigen Phrasen können wiedergeben, wie Miller, assistiert von den wunderschön erdigen Farben seiner Lebensgefährtin Lynn Varley, als Hardboiled-Homer diese antike Tragödie zu einem beispiellosen Heroic-Bloodshed-Epos im Breitwandformat ausarbeitet. Vom Ronin-, Dark Knight- und Sin City-Miller ist offensichtlich nur das jeweils beste geblieben, um zusammengepackt die Millersche Kunst auf ein neues Level, das nächste Plateau zu heben. So klar, dramatisch, effektiv und "spartanisch" war er nie; zwischen sparsamst gesetzten, gleichzeitig wie überlieferter Leonidas-O-Ton und originär millerisch klingenden Texten, bluttriefenden Kolossalschlachten, schwärzesten Sarkasmen und der von Frisuren bis Sandalen alle Details umfassenden Authentizität bleibt kein Moment zum Atemholen. Zahlreiche Doppelseiten sind Gemälde für sich, ohne den Rest dominant ausstechen zu wollen. So überzeugend verschwenderisch und dazu ökonomisch wurden Comicseiten selten in Paneleinheiten unterteilt. Da fällt es kaum ins Gewicht, daß Miller keine Elefanten zeichnen kann - die rutschen denn auch sofort auf den angehäuften persischen Leichenbergen aus und stürzen die Berge hinab. Sparta also: dort sind die wahren Superhelden zu finden, härter noch als Marv und edler sowieso. Frank Millers Arbeiten mögen auf den ersten Blick immer ein wenig Skepsis wecken, zumal ein solch übertriebener Stoff wie der der 300: man kann es so oft lesen wie kaum einen anderen zeitgenössischen Comicproduzenten, und es gewinnt immer mehr. Und seine Comics sind sicher nicht der Ort, an dem man den ergriffenen Schauder angesichts des ultimativen Kriegscomics politisch in Frage stellen sollte. (Sven-Eric Wehmeyer) Lesetipps:
Leseproben:
![]() Grendel
Grendel ist ein Konzept. Am Anfang stand eine einfache Geschichte, die über die Jahre immer komplexer wurde und an der immer mehr Menschen Teil hatten. Matt Wagner erfand die Figur in den frühen 80ern. Grendel, das war Hunter Rose, ein Wunderkind, das aus Langeweile erst Schriftsteller, dann Fechter und schließlich Boss einer gigantischen Gangster-Organisation wurde. Die Geschichte des Hunter Rose wurde schließlich so umfangreich, dass Wagner einen ersten Versuch sie zu Erzählen, abbrach und Jahre später einen weiteren Anlauf unternahm, der ihrer zunehmenden Komplexität auch gerecht wurde. "Devil by the Deed" hieß die Graphic Novel, die das Leben von Rose in verschachtelten, ornamentalen Illustrationen mit straffen Prosa-Passagen auf den Punkt brachte. In der Form eher eine Legende als alles andere. Mehr aus der (Zeit-) Not heraus entschied sich Wagner, die Fortsetzung der Geschichte nicht selbst zu zeichnen, sondern dies anderen Künstlern zu überlassen. Und er entschied, dass keine Grendel-Geschichte der anderen erzählerisch ähneln sollte. Grendel also als eine Art Experiment in Progress. Bei der Wahl der Zeichner ging Wagner ebenfalls nicht den einfachen Weg. Keine großen Namen, keine sicheren Sachen. Stattdessen junge, unbekannte Talente mit eigenem Strich, eigenem Stil. Die Pander-Brüder, Bernie Mireault, John K. Snyder/Ray Geldof, Tim Sale und Pat McEown; diese Namen haben zwar heute alle einen guten Klang, aber in den Rang eines Stars ist höchstens Tim Sale mit seinen eleganten Batman-Halloween-Stories gelangt. Anfangs übertrug Wagner die Maske Grendels in einer Art Erbfolge, dann machte er einen radikalen Schnitt und verlegte die Geschichte in die ferne Zukunft. In eine Zukunft, in der Grendel fester Bestandteil der Kultur geworden ist, in der Grendel-Clane sich befehden und ein Clan-Führer sogar zum Weltherrscher wird. Getreu seinem Motto, sich nicht zu wiederholen, wechselte Wagner die Themen beständig. Von reiner Action zu hochkomplexen, politischen Epen, alles war möglich. In den 90ern überließ Wagner dann auch anderen Autoren das Feld – und jeder hatte eine Chance, egal wie bekannt oder unbekannt er war. Er musste nur Wagner von seiner Idee überzeugen. Wagner ist seiner Figur bis heute treu geblieben. Erst jüngst erschienen zwei bemerkenswerte Projekt: "Grendel: Black, White & Red", in dem zahlreiche Hunter-Rose-Vignetten von einem Haufen großartiger Zeichner illustriert wurde. Und "Grendel: Past Prime", ein Roman von Crime-Shooting-Star Greg Rucka. Die Grendel-Saga mutiert also weiter. Das Experiment ist noch nicht abgeschlossen. (Bernd Kronsbein)
![]() Mad 1-28
MAD - der Wahnsinn hat Methode: 48 Jahre gibt es das Magazin jetzt schon, nahezu ein halbes Jahrhundert Humor und Ironie vom Feinsten, dick aufgetragen und ohne jeden Respekt vor Staat, Autoritäten und Traditionen. Wer kennt sie nicht, die bunte Menagerie von Alfred E. Neumann, Spion & Spion, Dave Bergs Lighter Side, Sergio Aragones´ Mini-Cartoons und dem, was "the usual gang of idiots" sonst so Monat für Monat unter die Kiddies (und deren ausgewachsene Version) hauen. Seinen Ursprung hat Mad 1952 im amerikanischen Verlagshaus EC, wo es als Sprössling des Verlegers William Gaines und des Herausgebers Hervey Kurtzman das Licht der McCarthy-Ära erblickte. Kurtzman, selbst ein begnadeter Zeichner, hatte als Herausgeber der außergewöhnlichen EC-Kriegscomics von sich reden gemacht. Über Jahre hinweg hatte er außerdem den einseitigen Humor-Cartoons "Hey Look!" (Sammelband bei Fantagraphics) geschaffen, der quasi Vorstudien zu seiner MAD-Arbeit bilden sollte. Vielleicht war die Zeit einfach reif für ein Humor-Magazin wie Mad, sicher ist aber: Kurtzman und Gaines waren die ersten, die mit einem radikalen Satiremagazin an den Markt gingen. Der Erfolg war sensationell. Unter Kutzmans Ägide entstanden mit den hervorragenden Zeichner des Verlages (Jack Davis, Wally Wood u.a.) die ersten 28 Hefte, die bis Heft 24 noch in Comicform, danach als Magazin, bekannte Figuren aus den Medien auf die Schippe nahmen. Sie wurden damit zum Vorreiter eine humoristischen Tradition, die bis heute in alle Bereiche der amerikanischen Medien weiterwirkt. Dabei sind die frühen Geschichten, wie die Superman-Parodie "Superduperman" aus Heft 4, auch heute noch zum Brüllen komisch und genauso aktuell wie damals. Und soll man den Heerscharen Pädagogen, Politikern und anderen Bedenkenträgern entgegenenhalten, die seit nun fast fünf Jahrzehnten unfähig sind, hinter den Brachialhumor Mad`scher Prägung zu sehen? - "What me worry!" (Cord Wiljes) Lesetipps:
![]() Understanding Comics
Scott McCloud hat ein Buch geschrieben. Ein Buch über Comics. Über die Sprache der Comics, die Grammatik, wie Zeit im Comicstrip funktioniert, wie Gedankengänge miteinander verknüpft werden, wie in einem starren Medium Bewegung dargestellt werden kann. Das Ganze in Form eines Comics. „Bist Du für so was nicht noch ein bißchen zu jung?“, fragt sein Kollege Matt Feazell mitleidig im Vorwort. Angeregt durch Will Eisners theoretische Bände einerseits und die Universitäts-Seminare von Art Spiegelman andererseits hat McCloud ein seltenes Kunststück vollbracht: „Comics richtig lesen“ ist ein ebenso unterhaltsames wie lehrreiches Buch geworden, ein intelligentes Standardwerk, das nun wirklich in jede Bibliothek gehört. McCloud taucht in die Geschichte der Bilderzählungen ein und liefert einen kompletten kommunikationstheoretische Basisbau. Selten sind dem Leser Fachausdrücke der Semiotik besser erklärt worden. „Die Grenzen des Mediums“, so McCloud optimistisch, „sind noch lange nicht erreicht.“ Den Beweis für diese These tritt er mit seinem eigenen Buch an. P.S.: Und wer es nicht ganz so schwerwiegend mag: Sowohl McClouds eigene Serie „Zot“, als auch seine Auftragsarbeiten für die „Superman Adventures“ (auf deutsch teilweise bei Dino) liefern einen beeindruckenden Beweis für seine Thesen. (Lutz Göllner) Lesetipps:
Platz 66 Die hermetische Garage des Jerry Cornelius (u.a.)
1963 in Frankreich: Paris kommt langsam ins Erneuerungsfieber. Beatniks und Studenten spielen mit neuen Wegen, die Gesellschaft umzukrempeln. Ein junger Mann namens Jean Giraud, der mit seiner Westernserie "Blueberry" bereits eine treue Anhängergemeinde um sich geschart hat, läßt sich in den Strom der Umwälzungen hineinziehen, liest Castaneda und Moorcock, schluckt Pilze, hört Free Jazz und Psychedelia und beginnt mit spielerischer Experimentierfreude und jeder Menge guter Laune einen Urknall auf Papier zu bannen, dessen Nachbeben bis heute in allem mitschwingen, das versucht, uns eine "Welt von morgen" zu präsentieren. Was für einen gewaltigen Impact das Werk dieser - hier kann man es ohne weiteres behaupten - lebenden Legende auf alles hatte, was auch nur im entferntesten mit Science Fiction zu tun hat, darüber werden sich kommende Generationen von Kunsthistorikern die Köpfe heißreden können. Fest steht, daß Moebius mit seinen Stories der frühen 70er einen neuen Standard für fantastische Bildwelten erschuf, der die Comicwelt der Roboter und Riesenraumschiffe vom Pulp der amerikanischen 50er emanzipierte und mit einem Schlag erwachsen werden ließ; bereits in Geschichten wie "The long tomorrow" wurden stilistische Ideen gezündet, von der sich ganze Armeen von Nachahmern inspirieren liessen, und die sich dann in den 80ern in Kultfilmen wie "Alien" und "Blade Runner" sowie in den 90ern im gesamten ästhetischen Arsenal der Cyberpunk-Schiene wiederfanden. Futuristische Design-Attacken wie Luc Bessons "D |